Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Wenn sich schreiende Mütter in Luft auflösen

3. März 2015
von Stefan Hauck
Als sich die tobende Mama in einen Luftballon verwandelt, genießt das kleine Mädchen die Stille - und beginnt, sich die Beziehung zu ihr vorsichtig zurückzuerobern. Die argentinische Illustratorin Isol gibt in "Der Ballon" (Jungbrunnen) Raum für wichtige Fragen zu einem schwierigen Thema.

Mütter können nicht immer nur nett sein. Sie unterliegen ebenso wie das Kind Stimmungsschwankungen, können entnervt, wütend, zornig sein - und schreien: Das gehört zu den kindlichen Grunderfahrungen. Jutta Bauer hatte 2000 in ihrem Bilderbuch "Schreimutter" (Beltz & Gelberg) den kleinen Pinguin erzählen lassen: "Heute Morgen hat meine Mutter so geschrien, dass ich auseinander geflogen bin" - ein treffendes Bild für die Zerrissenheit des Kindes, wenn sich sein Gleichgewicht während des Schreiens der Mutter auflöst.

2002 hat sich die argentinische Illustratorin Isol des Themas angenommen: Auch hier tobt eine übergroße orangefarbige Mutter, deren dunkler Schatten sich über das konsternierte Kind senkt; einzig das Kuscheltier, das es hinter seinem Rücken vor der Tobenden beschützt, gibt ihm Halt. Aber die kindliche Fantasie aktiviert alle Schutzmechanismen: "Eines Tages ging für Emilia ein Wunsch in Erfüllung", so beginnt scheinbar lakonisch Isols Bilderbuch "El Globo", das der stets entdeckungsfreudige Jungbrunnen Verlag nun erstmals auf Deutsch veröffentlicht hat. Die Mama hört auf zu schreien, weil sie sich in einen feuerroten Luftballon verwandelt hat: "Schön, rot, leuchtend." Und vor allem: "Mucksmäuschenstill". Emilia staunt ob der plötzlichen Stille, traut der Verwandlung nicht so ganz: Wie in einem Comic sehen wir Emilia überall nach der Mutter suchen.

Dann reflektiert sie über die Mama: "Sie schrie den Hund an, den Ofen, mich, alles, was sich bewegte". Mit wenigen Strichen lässt die 1972 als Marisol Misenta in Buenos Aires geborene ausgebildete Kunstlehrerin die Vergangenheit Revue passieren, wenige Konturen genügen, um Figuren über die papierene Bühne der Bilderbuchdoppelseite wirbeln zu lassen. "Ihre Bilder vibrieren vor Energie und explosivem Gefühl", hat Juryvorsitzender Larry Lempert im vergangenen Jahr hervorgehoben, als Isol den Astrid Lindgren-Memorial Award 2013 erhielt. Und sie nähmen stets den Blickwinkel des Kindes ein.

Das beweist dieses Buch, das die Auseinandersetzung mit dem Eltern meist unangenehmen Thema Schreien nicht scheut. "Meine Figuren sind Rebellen, die die Dinge hinterfragen", meinte Isol in einem Interview im vergangenen Jahr, und Emilia vertraut ihrer Fantasie, lässt sich auf die Mutter als stummem Luftballon ein, die immer noch ein nicht von der Seite weichender Begleiter bleibt, auf den Emilia nun unter umgekehrten Vorzeichen sehr fürsorglich achtgibt. Plötzlich kann sie auch wieder unbekümmert Spaß haben mit der Ballonmama, erobert sich die positiven Seiten des Umgangs zurück.

Isol schafft es, durch Bruchstellen in den Bildern Raum für Fragen zu lassen, Fragen, die Kinder im Kindergartenalter rasch stellen. Ist eine stumme gesichtslose Mutter besser als eine schreiende? Warum schreit jemand? Was kann man Schreien entgegensetzen? Im Dialog mit einem weiteren Mädchen wächst die Sehnsucht nach der Mama, Emilia wägt ab, grinst sophistisch: "Na ja ... manchmal kann man nicht alles haben" - eine Aussage, die zu weiteren Fragen führen wird. Mit wenigen Szenen und minimalistischem Strich hat sich Isol einem keineswegs einfachen Thema komplex genähert: Chapeau.

Isol: "Der Ballon". Jungbrunnen, 32 S., 12,95 Euro