Neu im Regal: Buchtipp der Woche

Die Buchkultur hat Zukunft

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Ist die Buchwelt Zeuge ihrer eigenen Abenddämmerung, oder befindet sie sich am Vorabend eines neuen Morgens? Der Titel des von Detlef Bluhm herausgegebenen und in Leipzig vorgestellten Bandes "Bücherdämmerung" ist doppeldeutig – doch letztlich geht es nicht um melancholische Rückschau, sondern um die Chancen, die das Buch in der digitalen Welt haben wird.

Mit der Begründung des World Wide Web vor 25 Jahren wurde der Weg frei für einen digitalen Wandel, der auch die Buchbranche grundlegend verändert hat und weiter verändern wird. "Die Digitalisierung hat sogar eine noch radikalere und tiefgreifendere Medienrevolution entfacht als Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks vor 550 Jahren", schreibt Detlef Bluhm in "Bücherdämmerung. Über die Zukunft der Buchkultur", das soeben im Verlag Lambert Schneider erschienen ist. Neun Autoren – Bluhm eingeschlossen – gehen in elf Essays der digitalen Transformation der Buchwelt aus unterschiedlichen Perspektiven nach.

Die gemeinsame Diagnose aller Beiträge: Die Strukturen und Funktionen der Buchindustrie verändern sich radikal, aber es gibt einen Kern, der gleichbleibt. Das Buch, nicht mehr allein als Kodex verstanden, existiert weiter. "Das Buch wird es als Inhalt oder Content oder Prinzip Buch immer geben, es hat ja bereits vor der Erfindung der Schrift existiert: als mündliche Erzählung, die von Generation zu Generation überliefert wurde", heißt es im Vorwort. Was sich im Laufe der Zeit geändert hat, ist seine Form, sein "Ausgabeformat", schreibt Bluhm.

Mit den Erscheinungsformen des Buchs in der digitalen Welt beschäftigt sich Volker Oppmann in seinem Beitrag ("E-Reader, Smartphones & Tablets. Von der Vielfalt und ihrer Bedrohung"). Dort begegnet es ähnlich wie in der Printwelt als Container-Format für geschlossene Textformen wie den Roman, als Software-Anwendung mit animierten Inhalten (App), als browserbasierter Webservice (Online-Datenbank) oder als Cloud-Service. Welches Format schließlich gewählt wird, hängt von der Textgattung, von der Nutzungssituation oder anderen Faktoren ab.

Auf die veränderte Rolle des Autors im Internet gehen mehrere Beiträge des Bandes ein. Dietmar Dath kritisiert in seinem Beitrag "Dichtung gegen Dumpinglohn. Von der Ökonomie des Schreibens" die Tendenz vor allem bei großen Konzernen, Leistung abzusaugen und daraus generierte Produkte möglichst niedrigpreisig oder kostenlos anzubieten. Es sei an der Zeit sich zu organisieren und für eine Entlohnung der schreibenden Tätigkeit zu kämpfen.

Welchen Wandel die literarische Produktion im Internet durchmacht, beschreibt Detlef Bluhm in seinem Text "Autoren im Netz. Von der Schriftstellerei im digitalen Zeitalter". Als Self-Publisher verfügen sie über vollkommen neue Möglichkeiten, auf direktem Wege ihre Leser anzusprechen. Sie können sich alle Leistungen zukaufen, die ihnen sonst ein Verlag bieten würde. Sie erzielen Erlöse, von denen Autoren sonst nur träumen. Und sie werden selbst zu einer Marke im Netz, die kein Verlagsrenommee mehr benötigt. Zwar habe die Buchbranche darauf reagiert, aber, so Bluhm, ihre "Gatekeeper-Funktion" werde von immer mehr Autorinnen und Autoren hinterfragt. Wenn Verlage nicht "umgehend neue Strategien entwickeln und ihr Leistungsspektrum deutlicher als bisher kommunizieren", drohe ihnen ein "Bedeutungsschwund".

Wie das Internet gleich einem aschespeienden Vulkan alles in der Buchbranche unter sich begräbt, aber zugleich fruchtbaren Boden für Neues bereitet, schildert Katja Splichal in ihrem Beitrag "Moderne Content-Produzenten". Neben der klassischen Buchproduktion habe das Internet eine vollkommen neue Dimension der Content-Produktion möglich gemacht: die Blogosphäre. Darin liege ein gigantisches Potenzial, das man nicht den Servern weniger Großkonzerne überlassen dürfe. Freilich kann diese Art der Content-Produktion auch Blüten treiben: wenn sie nämlich softwaregesteuert und algorithmisch funktioniert. Dann entstehen Texte mit individueller und emotionaler Färbung, aber ohne menschliche Autorschaft. Der US-Philosoph und Softwarespezialist Bob Stein hat entsprechende Programme geschrieben, erzählt Splichal.

Dem "anderen Lesen", wie wir es durch die Öffnung des Buchs zu Film, Games und semantischen Leseprogrammen erleben köntnen, widmet der Medientheoretiker Stephan Selle seinen Text ("Anders lesen"). Selles Vision: In einigen Jahren haben wir Lesegeräte, die mitdenken, uns Textstellen erläutern oder den Plot an unsere jeweilige Umgebung. Auf Mallorca, so Selle, läsen wir dann die Buddenbooks-Handlung in La Palma statt in Lübeck.

Gegen diese Art von Verflüssigung des Werkgedankens wehrt sich Elisabeth Ruge in ihrem Beitrag "Druckerschwärze versus Bytes?", in dem sie für die Koexistenz verschiedener analoger und digitaler Formate plädiert.

Weitere Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit der Zukunft sozialer Medien (Klaus Sielker), mit technologischen Innovationen, die die nächste Veränderungswelle auslösen ("Future Lab" v. Detlef Bluhm), mit dem Urheberrecht (Jan Hegemann) und mit der Systematik digitaler Inhalte, die der "Baumlogik" der Bücher das Netz oder das Rhizom entgegensetzen (Thomas Macho: "Bücher im digitalen Zeitalter. Von der Gutenberg- in die Turing-Glaxis").

"Bücherdämmerung. Über die Zukunft der Buchkultur" (hrsg. v. Detlef Bluhm) ist im Verlag Lambert Schneider erschienen (160 S., 19,95 Euro).

"Bücherdämmerung" heißt auch ein Blog, auf dem man über die Buchkultur schreiben und diskutieren kann.