Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Unsichtbare Streifen

3. März 2015
von Börsenblatt
Was haben Alfred Hitchcock, Stanley Kubrick und Orson Welles gemeinsam? Alle drei scheiterten mit diversen Filmprojekten – aus den unterschiedlichsten Gründen. Ein Schicksal, das sie mit anderen Regiestars teilen. Der bildreiche, bunte Band aus der Zürcher Edition Olms holt geplatzte Leinwandträume ins Rampenlicht.

"Die hier vorgestellten Filme repräsentieren sozusagen eine alternative Filmgeschichte", heißt es im Vorwort von "Die besten Filme, die sie nie sehen werden". Der britische Filmkritiker Simon Braund hat den Band herausgegeben, unterstützt wird er von 14 Autoren. In meist mehrseitigen Beiträgen werden Film für Film gescheiterte Projekte von Starregisseuren geschildert – von den 1920er Jahren bis 2012, von der Idee bis zum endgültigen Aus. Zu jedem Film hat ein Künstlerteam schöne fiktive Plakate entworfen, die ganzseitig abgebildet werden. In einer Box fassen die Autoren knapp zusammen, was mit den Protagonisten danach geschah. Zudem beurteilen sie augenzwinkernd, ob es noch Chancen gibt, die Stoffe auf der Leinwand zu sehen. 

1954 bekam Alfred Hitchcock in Südfrankreich, er ließ gerade Cary Grant und Grace Kelly "Über den Dächern von Nizza" turnen, den Thriller "Keine Kaution für den Richter" von Henry Cecil in die Finger. Der Inhalt: Ein Richter des Obersten Gerichtshofs in London soll eine Prostituierte ermordet haben. Der ideale Filmstoff für den britischen Meister des Suspense. Zunächst auf Eis gelegt, suchte Hitchcock dann 1958 einen Drehbuchautor – der "Vertigo"-Schreiber Samuel Taylor biss an. Als Schauspieler waren Audrey Hepburn und auch Cary Grant im Gespräch. Ein Kassenerfolg schien vorprogrammiert. Warum wurde dennoch nichts aus dem Film? Eine banale Begründung lautet: Audrey Hepburn stieg aus (es kursieren verschiedene Versionen über den Grund, war es ein mögliche Vergewaltigungsszene?). Und Hitchcock verlor die Lust am Starkino, stürzte sich auf eine neue Low-Budget-Filmidee – heraus kam "Psycho".

Besonders quälend die Projekte von Orson Welles, die sich wie "Don Quixote" über Jahre hinzogen, weil der Regisseur sie teils aus eigener Tasche finanzieren musste und nie zum Abschluss kamen (beim "Quixote" starb einer der Hauptdarsteller), nur in Bruchstücken zu sehen sind. Bitter! Aber manchmal hat das Scheitern − wie bei Hitchcock gesehen – auch 'positive' Effekte. Zumindest aus filmgeschichtlicher Perspektive. Ein weiteres Beispiel: Nachdem der neue Studioboss den Geldhahn für Stanley Kubricks gigantomanische Filmbiografie "Napoleon" (Kubrick plante mit zehntausenden Komparsen) zudrehte, wechselte der Brite zu Warner Brothers und unterschrieb für drei Filme. Als erster in den Kinos: der Filmklassiker "Uhrwerk Orange".

Mit einer Prognose irrten die Autoren des Bandes, der im englischen Original 2013 erschien. Einer Satire über den Abscam-Skandal in den USA, die der 1995 verstorbene Louis Malle Anfang der 80er Jahre nicht verwirklichte, räumten sie kaum Chancen auf ein Leinwandleben ein. Dennoch erwähnen sie Gerüchte, dass sich der Regisseur David 0. Russell für den Stoff (Arbeitstitel: "American Bullshit") interessierte. Gerüchte die sich bewahrheiten sollten: Im vergangenen Jahr kam der Film als "American Hustle" ins US-Kino. Im Februar startete er in Deutschland. Das hätte man bei der deutschen Übersetzung womöglich noch aktualisieren können.

Alles in allem: Der liebevoll gestaltete Band der Edition Olms, mit zahlreichen Abbildungen versehen, lädt nicht nur Cineasten zum Schwelgen gemäß dem Motto "Was wäre wenn?" ein – eine wahre Fundgrube. Neben den genannten Regisseuren reihen sich unter anderem ein: Charlie Chaplin, Robert Bresson, Federico Fellini, Alejandro Jodorowsky, Steven Spielberg, Sergio Leone, Ridley Scott und die Coen-Brüder. Kopfkino zwischen zwei Buchdeckeln!

Simon Braund (Hrsg.): Die besten Filme, die sie nie sehen werden. Die unveröffentlichten Meisterwerke der Starregisseure. Ausgewählt von 15 internationalen Autoren. Übersetzung aus dem Englischen von Stefanie Kuballa. Oetwil am See/Zürich: Edition Olms, 2014, 256 S. mit ca. 400 farbigen und s/w Fotos, Plakaten und Skizzen. 29,95 Euro, ISBN 978-3-283-01174-1