Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Warum lesen schön ist

3. März 2015
von Börsenblatt
Lesen ist schön. Aber warum eigentlich? Stefan Müller hat sich auf die Suche nach Gründen begeben und gleich eine ganze Menge gefunden. Die Beschäftigung mit "111 Gründe Bücher zu lieben" lohnt sich vor allem für angehende Leseratten.

„111 Gründe, Bücher zu lieben" ist eigentlich das, was der Nebentitel verspricht: „Eine Liebeserklärung an das Lesen". In erster Linie zumindest. Die 111 im Haupttitel behaupteten Gründe (der gleichnamigen Reihe von Schwarzkopf & Schwarzkopf), eine reine Zahlenspielerei, die eher an einen Reiseführer erinnert, sind fast ausschließlich willkürlich gesetzt und werden schon beim Überfliegen und ersten Anblättern des gerade erschienenen Buches als reine Ordnungskriterien für allerlei Anekdoten und Literaturklatsch entlarvt: „Weil Literaturwissenschaftler einfach ihr Hobby zum Beruf machen können" oder „Weil Bridget Jones so leckere blaue Suppe kocht", „Weil Shades of Grey wie ein erotisches Gebirge aus dem Boden gewachsen ist" – sogenannte Gründe wie diese lassen bereits erahnen, dass es dem Literaturwissenschaftler Stefan Müller nicht darum geht, den aktuellen Diskurs über den kulturellen Stellenwert des Buches auf ein anderes Niveau emporzuheben, wie es Michael Schikowski in "Warum Bücher?" tut, oder sich der blutleeren Scheindebatte um die vermeintliche Schwäche der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur anzuschließen. Zumindest für letzteres muss man Müller aufrichtig danken.

Scharfgemacht durch den Verlagsnewsletter von Schwarzkopf und Schwarzkopf (technisch, optisch und konzeptionell sicher einer der besten Newsletter der Branche, vielleicht sogar der beste), der auf unterhaltsame und optisch ansprechende Weise stets einen einzigen Titel und Autor vorstellt, war die Erwartungshaltung gegenüber „111 Gründe, Bücher zu lieben" extrem hoch und wurde schlagartig enttäuscht. Die Ausflüge über die Entwicklung der Buchmessen in Leipzig und Frankfurt und ein Zeitraffer der Buchgeschichte oberflächlich, gerade die Ein-Satz-Zusammenfassungen von insgesamt mehr als 300 (!) erwähnten Bücher oft verkürzt und plakativ: Als Bücherliebhaber und Vielleser oder als professionelle Leserin (Buchhändlerin, Verlagsmitarbeiterin) wird einem eher früher als später an irgendeiner Stelle die Zornesröte ins Gesicht steigen: „Wieso schreibt Müller das so?" „Hat er das Buch denn überhaupt gelesen?" „Wieso erwähnt er ausgerechnet DIESES Buch und nicht JENES?!" – Buchmenschen sind Besserwisser und pochen auf ihre eigene, tyrannische Meinung, die sie selbst stets als die angemessene betrachten. Kühlt der Zorn ab, wird klar: Ja, Müller hat all diese Bücher gelesen. Und er hat sein Wissen systematisch aufbereitet.

Davon selbst ein Meinungstyrann zu sein, ist Stefan Müller nämlich weit entfernt: Der 33-Jährige gehört einer jungen Generation von Literaturwissenschaftlern an, die ohne mit der Nase zu rümpfen von ihrem Höhenkamm herabsteigen und sich mit Begeisterung auch der sogenannten Trivialliteratur zuzuwenden. Müller belegt in seinem Buch über die Bücher problemlos, dass man auch eher seichten Büchern etwas abgewinnen kann (Hauptsache es wird gelesen), wobei er Bücher stets empfiehlt, nie zerreißt. Das die „Trivialliteratur" ebenso wie die „Unterhaltungs"literatur ihren Stempel in vielen Fällen nicht zu Recht trägt, spart Müller milde aus.

Mehrere Jahre hat der Literaturwissenschaftler das Material für sein Buch zusammengetragen. Diese Herkulesaufgabe merkt man seiner „Liebeserklärung an das Lesen" gar nicht mehr an. Von Buchtipp zu Buchtipp gleitet man auf oft geschickten, in manchen Fällen allerdings etwas holprigen Überleitungen von Literaturepoche zu Literaturepoche, von Anekdote zu Anekdote, erfährt dabei mehr über Stefan Müller, als man es sich träumen ließe (Dreizimmerwohnung, hat alle drei Bände „Shades of Grey" zuhause stehen, geht gerne in die Kneipe) und lässt sich von Müller in die Welt des Lesens und des Lebens mit Büchern entführen. Sprachlich und stilistisch stapelt Müller dabei bewusst tief, um nicht staubtrocken rüberzukommen. Er schießt damit aber leider schon einmal weit über das Ziel hinaus.

Dennoch: Genauso spielt das Buch alle seine Trümpfe aus. Sehr unterhaltsam und mit bewusst niedriger Einstiegsschwelle vermittelt hier ein Profi für Nichtgeisteswissenschaftler, für Nichtbuchhändler, Nichtlektoren oder betagte Graphomanen worin der Gewinn des Lesens überhaupt besteht, wie man überhaupt mit Büchern lebt: von den Möglichkeiten das Bücherregal zu sortieren bis hin zu den von Müller persönlich abgelehnten E-Books, dem Zauber von Buchmessen, dem Wesen der Lesezeichen, Ex libris, Spitzentitelmarketing der Verlage, Bestsellerwesen und –unwesen, Literaturpreisen – das ganze Universum vom Leben und Umgang mit Büchern wird auf weniger als 280 Seiten abgefrühstückt. Leser, die gerne blättern, können problemlos zwischen Kapiteln vor und zurückspringen und werden so bei der Stange gehalten.

Daneben wird für den lokalen Buchhandel und den Beruf des Buchhändlers gleich an mehreren Stellen eine Lanze gebrochen und der Leser erhält gleich noch einen Crashkurs in (deutscher) Literaturgeschichte bis 2013, vor allem aber: hunderte Vorschläge für die nächste Lektüre. Besonders ist das Buch darum für Jugendliche und junge Erwachsene und Studienanfänger (15 bis 22 Jahre) sowie Menschen geeignet, die gerne lesen, aber eigentlich keine Sachbücher mögen (oder NOCH nicht mögen). Schwerpunkt in Stefan Müllers „111 Gründe, Bücher zu lieben" bilden darum auch Romane. Würde auf dem Schutzumschlag das Vorsicht-Buch!-Logo prangen, würde man sich auch nicht wundern.

Kurzum: Stefan Müllers Liebeserklärung an das Lesen ist eine verdienstvolle Fibel für angehende Leseratten – für sehr anspruchsvolle und bereits erfahrene Leser ist sie nicht gedacht.

Stefan Müller: 111 Gründe, Bücher zu lieben. Eine Liebeserklärung an das Lesen, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 280 Seiten, 14,95 Euro.