Neu im Regal - Lesetipp der Woche

Originelle Kompositionen

3. März 2015
von Stefan Hauck
Tim Krohn weitet in seinem schmalen neuen Erzählband durch überraschende Perspektiven den Blick, vernetzt die kleinen Welten mit der großen Welt und unterhält dabei bestens. Als Verbindungsstück zwischen seinen acht Geschichten in sechs Jahrzehnten fungiert eine Matratze bester Machart.

In einer kleinen Pension unweit von Stuttgart taucht die Protagonistin 1935 das erste Mal auf: "Ein erstklassiges Fabrikat aus der Fabrik meines Bruders auf der Schillerhöhe", erklärt der Wirt, "neuestes Modell, Federkern vom Feinsten mit einer ganzen Reihe bahnbrechender Innovationen." Die dreiteilig klappbare Matratze ist Zeugin der Hochzeitsnacht von Immanuel und Gioia Wassermann; der Farbenfabrikant hatte die Sizilianerin erst tags zuvor am Lago Maggiore kennen und lieben gelernt. Fortan wird der Leser diese Matratze in acht knappen Miniaturen begleiten, sie wird zum Symbol von Überlebenswillen und dem unerbittlichen Verlauf europäischer Geschichte.

Der 49-jährige Tim Krohn, Ex-Präsident des Schweizer Schriftstellerverbands, der mit seinen Romanen "Quatemberkinder" und "Vrenelis Gärtli" großartige epische Literatur mit ebenso voltenreichen wie vergnüglichen Sprachspielereien geschaffen hat, beschränkt sich in den kleinen Erzählungen auf Andeutungen, er breitet Atmosphäre aus, legt Spuren und lässt den Leser die Geschichten vervollständigen. Immanuel Wassermann muss sich als Jude von Gioia trennen, sie verschlägt es nach Schaffhausen und später in die USA. 1944 ist die Matratze im Schaffhauser Luftschutzkeller Zeuge, wie drei Kinder das Bombardement des Hauses erleben, ihre Mutter hingegen auf ihrer Arbeitsstelle beim Versuch, zu ihren Kindern zu gelangen, im Bombenhagel umgekommen ist. Vom scheinbaren Plauderton kippen Krohns Miniaturen durch den Einbruch der Realität ins Mulmige, demonstrieren unerbittlich, wie dicht Freud und Leid beieinanderliegen.

Die Matratze begleitet ein kriegsbeschädigtes junges Paar,  ein altes Paar, wo sich der Ehemann rührend um seine demente Frau kümmert, ein junges Pärchen, deren Liebesurlaub im Deux-Chevaux durch Schneefall jäh scheitert, eine Katechetin im von Regenfluten heimgesuchten Rom, 1985 schließlich einen Junggesellen, dem die Matratze im Meer vielleicht zur Rettungsinsel wird, bis sie als Treibgut wieder an Land gespült wird und auf den alten Immanuel Wassermann stößt. Tim Krohn weitet durch überraschende Perspektiven den Blick, vernetzt die kleinen Welten mit der großen Welt und vergisst dabei keineswegs zu unterhalten.

Tim Krohn: "Aus dem Leben einer Matratze bester Machart". Galiani, 120 S., 16,99 Euro