Jochen Jung über die Freuden des Vorlesens

Das erzählte wahre Leben

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Wer sich in ein Buch vertieft, muss dabei nicht zwingend allein sein. Denn in Gesellschaft liest es sich viel besser. "Nichts schöner, inniger, als sich von der Liebsten abends etwas vorlesen zu lassen", meint der Verleger Jochen Jung. Exklusiv für das "Börsenblatt" hat Jung den "Froschkönig" vorgelesen (die Audiodatei hängt an).

Die Eckdaten sagen: Es läuft nicht rund mit dem Buch. Dabei sagen mir alle, mit denen ich darüber rede, dass sie sich ein Leben ohne Buch nicht vorstellen könnten, Bücher seien die Gesellen der Einsamkeit, oder besser: des Alleinseins, denn allein sein müsse man beim Lesen, einsam aber sei man mit einem gut ­erzählten Buch nie.

Dem stimme ich im Prinzip zu, obwohl − allein sein muss man beim Lesen durchaus nicht, wie man von Lesesälen in großen Bibliotheken weiß, ganz davon abgesehen, dass meiner Meinung nach viel zu wenig vorgelesen wird, und nicht nur den Kindern. Gerade Erwachsene sollten einander viel mehr vorlesen, ich kann es nur empfehlen.

Ich mache das mit meiner Frau immer wieder, und nicht nur, wenn es eine schräge Nachricht aus der Zeitung weiterzugeben gibt. Nichts schöner, inniger, als sich von der Liebsten abends etwas vorlesen zu lassen, was ihr etwas bedeutet, einen Text, den sie liebt und von dem sie gern hätte, dass auch ich ihn liebe. Und dann darüber zu reden, warum er ihr so gut gefällt. Man macht damit die besten Erfahrungen.

Möchte man nicht, dass auch der Partner / die Partnerin das kennt, was einen vielleicht schon vor Ewigkeiten »erwischt« hat und immer wieder beschäftigt? So erfährt man etwas voneinander und über die Literatur und das Leben obendrein.

Kommt hinzu, dass der Text durch die Stimme der / des anderen ja nur gewinnen kann, und die Stimme, durch den Text heraus­gefordert, etwas von sich zeigt, was sonst vielleicht auf immer verborgen geblieben wäre. So finden Leser, Zuhörer und Autoren mit Vibrato zusammen. Ich weiß, es gibt Hörbücher, die einen denken lassen: Das könnte ich nie. Aber es geht bei dem, was ich meine, nicht um Sprechkunst, es geht um Nähe und Vertrautsein.

Es versteht sich, dass man die Szenerie vorher und nachher und mit einem guten Glas auch während des Vorlesens "anreichern" kann (es muss ja nicht immer das Wasserglas auf dem Pult sein), gerade die Winterabende haben da eine gewisse Tradition: Der Mensch bleibt in seinen vier Wänden, besinnt sich und zieht ein bestimmtes Buch aus dem Regal (nein, von einem E-Book-Reader vorzulesen, das kann ich mir nicht vorstellen), blättert, findet die gesuchte Stelle, freut sich und möchte sie mitteilen.

Es muss nämlich nicht immer ein ganzer Roman sein, oft genügt das erste Kapitel (oder das letzte), um dem anderen so wie sich selbst in Erinnerung zu rufen, wer Ahab war, oder Eduard, oder Allerleirauh. Aber auch das Für-sich-Lesen in Gesellschaft anderer (im Zug, im Flieger, am Hotelkamin, am Strand) hat seinen Reiz. Ich spüre da immer eine stille Konkurrenz. Oft schaffe ich es aber trotz aller Bemühung auch mit schrägem Kopf nicht zu entziffern, was mein Gegenüber gerade liest, aber meist denke ich, dass ich in der besseren Gesellschaft bin, außer ich sehe, dass mein gegenüber einen russischen Klassiker liest: Das ist immer die beste Gesellschaft.

Sitze ich aber selber der Karenina an der Seite und versuche, sie vor Wronskij zu warnen, wissend, dass die Katastrophe unausweichlich ist, dann weiß ich wieder: Die Rettung der Buchkultur ist die Literatur selbst, das erzählte wahre Leben, nichts sonst.

In der angehängten Hörprobe liest Jochen Jung Ihnen den "Froschkönig" vor.