Neu im Regal: Lesetipp der Woche

"Reispapierheft, Blockflöte, Kiefernstock und Federhut"

27. Februar 2015
von Börsenblatt
Dies sind "die vier einzigen unverzichtbaren Dinge für das Leben in den Wäldern", formuliert der französische Weltenbummler und selbsternannte Nomade Sylvain Tesson in seinem literarischen Essay über die "Unermesslichkeit der Welt". Ein poetisches, ungewöhnliches Reisebuch.

Ein gängiger Reisebericht ist es nicht, den der 1972 in Paris geborene Journalist, Autor und Geograf Sylvain Tesson hier vorlegt − sondern ein lohnender, kontemplativer Essay übers Reisen. In elf Kapiteln reflektiert er in poetischer Sprache über seine ausgedehnten Reisen, die ihn − oft im Alleingang − in extreme Regionen der Welt führten. Stellt Bezüge zu früheren Vagabunden und Wanderern (Goethe!) her. Seine Motiv für die unbändige Entdeckungslust, der Suche nach dem Geheimnisvollen: In der Abenteuerreise habe er ein Mittel gefunden, schreibt Tesson, "den Lauf der Stunden auf der Haut meines Lebens aufzuhalten", der schnelllebigen westlichen Welt den Rücken zu kehren, die Zeit zu dehnen.

Tesson erklärt, warum er am liebsten mit ehrlichen Mitteln ("by fair means") unterwegs ist − zu Fuß oder mit dem Pferd, per Kanu oder Fahrrad: "Weil die Langsamkeit Dinge enthüllt, die sich hinter der Geschwindigkeit verbergen". An diesen Dingen lässt er den Leser teilhaben, nimmt ihn mit auf seine innere Reise, verrät seine Strategien gegen die Langeweile und Einsamkeit beim Marschieren durch gleichförmige Landschaften (etwa Gedichte und Gebete aufsagen) und sein abendliches Ritual (ins Tagebuch schreiben) − oder auch die Vorzüge und optimale Lage eines Biwaks. Hin und wieder lässt er sich dennoch vom Motorrad verführen. ..

In anderen Passagen beschreibt Tesson, wie er auf den Reisen seinen Humanismus verloren hat (weil die eine Hälfte der Menschheit, die Männer, die andere Hälfte, die Frauen, unterdrücke), oder warum Geografie das schönste Studium ist und die ideale Voraussetzung für begreifendes Blicken in die Landschaft. Ein eigenes Kapitel widmet er den "Steinschiffen", den großen Kathedralen. Deren Dächer, die er mit Freunden erkletterte, stellen für ihn nahe, städtische Rückzugsorte dar. "So entwarfen wir, auf einer höheren Ebene, eine geografische Paralleldarstellung der französischen Städte", resümiert Tesson, "eine Geografie der Leere mit ihrem Ozean aus Dächern." Das letzte Kapitel seines wunderbaren literarischen Essays gehört aber den "Wäldern der Zuflucht" und Menschen, die in Russland die Abgeschiedenheit des Waldes suchen. Ein Traum, den auch Tesson träumt ("Ich würde gerne in einer Hütte enden", leitet er das elfte Kapitel ein).

Der schmale Band, fadengeheftet, mit Kopfschnitt und Lesebändchen, ist in der verdienstvollen bibliophilen Reihe "Naturkunden" erschienen, die Judith Schalansky bei Matthes & Seitz Berlin herausgibt. Sie gestaltete auch den Einband und die Typografie. Das französische Original erschien 2005 – jetzt liegt das Buch endlich auf Deutsch vor.

Sylvain Tesson: Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Matthes & Seitz Berlin, 128 S., 20 Euro

mg