Neu im Regal - Lesetipp der Woche

„Nein, ich schreibe nicht über Berlin …“

27. Februar 2015
von Börsenblatt
Schlüssellektüre für Gombrowicz-Einsteiger: Wer einen schnellen Einstieg in das Leben und Denken des polnischen Exilanten sucht, für den sind Gombrowiczs Aufzeichnungen als Ford-Stipendiat im geteilten Berlin eine wahre Fundgrube. Die edition.fotoTAPETA macht die "Berliner Notizen" 50 Jahre nach Witold Gombrowicz Aufenthalt in der heutigen Hauptstadt neu zugänglich.

Das Werk Witold Gombrowiczs (1904-1969), dieses unverschämten Giganten der polnischen Literatur, liegt in deutscher Übersetzung im Carl Hanser Verlag und als Taschenbuchausgabe bei S. Fischer vor. „Ferdydurke", „Pornographie" nicht zuletzt das umfangreiche Tagebuch-Werk sichern Gombrowicz einen Rang unter den größten polnischen Dichtern überhaupt. Von diesem heutigen Ruhm konnte sich der Sohn einer Landadelsfamilie zeitlebens herzlich wenig kaufen.

Vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs während einer Schiffsreise nach Argentinien überrascht (seinerzeit eines der vermögendsten Ländern der Welt), sollte das enfant terrible der polnischen Literatur fast 24 Jahre im südamerikanischen Exil verbringen. Verfemt und angefeindet von den Sozialisten und den Neidern in der Heimat war ihm eine Rückkehr in das geistig fremd gewordene Vaterland undenkbar. Er hatte einen demokratischen Staat verlassen, den das Dritte Reich und die Sowjetunion durch ihre Invasionen und gezielte Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung fast zerbrochen hatten. Von seinen multikulturellen Bevölkerungsstrukturen „bereinigt" und auf der Landkarte verschoben, war Gombrowiczs Heimat inzwischen dem Sozialistischen Imperium einverleibt worden.

Ausgerechnet dieser in Westeuropa eigentlich unbekannte Witold Gombrowicz wird 1963 gemeinsam mit Ingeborg Bachmann als erster Stipendiat der Ford Stiftung nach West-Berlin geholt. Für ein Jahr. Der 59-Jährige war bereits mürbe vom Exil. Nach einem Zwischenstopp in Paris (im Pariser Verlag Kultura erschienen alle relevanten polnischen Dichter im Exil) bezog er Quartier am Hohenzollernring.

Er trifft polnische und deutsche Autoren wie Uwe Johnson, Peter Weiss oder Günter Grass und bleibt doch alleine, stets außen vor. „Wir waren hermetisch, sie für mich, ich für sie, da ging nichts, das war von vornerein klar, gar nichts, und das Beste, was man tun konnte, war sich gegenseitig in Ruhe zu lassen."

Fruchtbarer liefen die privaten Begegnungen Gombrowiczs mit Vertretern der deutschen Jugend ab: „Wie europäisch sie sind! (…) Keine Spur von Chauvinismus oder Nationalismus, weite, weltoffene Horizonte, ja, das war die modernste Jugend, die ich je gesehen hatte. Sie verdrängten die Vergangenheit nicht einmal …". Schnörkellos hilft Übersetzter Olaf Kühl dabei die Dimensionen dieser Aussagen vollständig zu erschließen. Um die Jugend kreist die Poetologie Gombrowiczs wie um den eigenen Bauchnabel. Mit Verweis auf das Anfang 2013 erstmals in Polen publizierte geheime Tagebuch Gombrowiczs „Kronos" (Wydawnictwo Literackie) benennt Kühl auch offen Gombrowiczs im literarischen Werk stets durchscheinenden Hang zur Päderastie. Wer sich mit Gombrowicz vertraut machen will, für den lohnt sich die Lektüre der „Berliner Notizen" alleine wegen der Ausführungen Olaf Kühls.

Auch so ist das Skizzenbuch ein Parforce-Ritt durch Gombrowiczs geistigen Kosmos. In Berlin wurde er interviewt, redete sich auf einem Podium an der Universität in Rage: „Ich kann nicht behaupten, dass ich entsetzt wäre, wenn ich zum Beispiel fünf Deutsche mit acht Maschinen beim Bau eines Hauses sehe. (…) Aber wie viel schrecklicher sind sie anzuschauen, wenn sie sich in etwas derart Chimärischem wie der Kultur verwirklichen …"

Gombrowiczs Ironie angesichts der unerhört scheußlich-idyllischen Biedermeier-Atmosphäre der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist an Galligkeit nicht zu übertreffen: „Hatte ständig den Eindruck, als wüsche sich Berlin, wie Lady Macbeth, unermüdlich die Hände." Oder „Ich aß in einem Gartenrestaurant am Fehrbellinner Platz zu Abend: lauschig, Bäume, Schirme. Spatzen, von keinem Deutschen je erschreckt, hüpften mir auf den Tisch und pickten nach Kräften vom Teller."

Berlin 1963, das literarische Leben der geteilten Hauptstadt, das alles spielt in den „Berliner Notizen" kaum eine Rolle. Nicht umsonst beginnt Gombrowicz ja auch sein „Tagebuch 1953 - 1969" mit den Worten: „Montag: Ich. Dienstag: Ich. Mittwoch: Ich. Donnerstag: Ich." Auch in den Berliner Notizen hat Gombrowicz Angst, den eigenen Kosmos zu verlassen: „Nein, ich schreibe nicht über Berlin, ich schreibe über mich – diesmal in Berlin. Ich habe kein Recht, über irgend etwas anderes zu schreiben." Dem jungen, kosmopolitsch ausgerichteten Verlag edition.fotoTAPETA gebührt Dank. Nicht zuletzt für den verlegerischen Spürsinn, diese meisterhafte Stück Prosa der von Gombrowicz so gepriesenen deutschen Jugend wieder schmackhaft zu machen.