Interview mit Mathias Gatza über das Modellprojekt "Fiktion"

"Wir befinden uns in einer Pionierzeit"

20. Juli 2015
von Börsenblatt
99 Prozent aller verkauften E-Books sind reine Textbücher, ohne interaktive und multimediale Elemente. Der Verleger, Lektor und Autor Mathias Gatza hat nun ein Modellprojekt mitbegründet, das die Möglichkeiten digitaler Publikationen experimentell ausloten will. Holger Heimann hat für boersenblatt.net mit ihm gesprochen.

Sie waren Verleger und Lektor, bevor Sie zuletzt selbst Romane geschrieben haben ("Der Schatten der Tiere", "Der Augentäuscher"). Warum wechseln Sie jetzt erneut die Seiten und gründen gemeinsam mit Ingo Niermann und Henriette Gallus unter dem Namen Fiktion einen Verlag für E-Books?
Wir sind kein Verlag, sondern ein Modellprojekt. Wir machen nicht nur ein Literaturprogramm, sondern richten im März mit der Humboldt Universität einen ersten hochkarätigen internationalen Urheberrechtskongress im Haus der Kulturen der Welt aus, machen internationale Workshops und Leseforschung mit der Uni Mainz. Wäre ich übrigens Verleger geblieben, würde ich mich jetzt ebenfalls im E-Book engagieren. Ein bestimmter Teil der Literatur ist als gedrucktes Buch nur noch schwer zu vermitteln. Die Digitalisierung eröffnet da ein neues Experimentierfeld. Als ich mit 26 Jahren einen eigenen Verlag hatte, musste ich für jedes Buch 10.000 bis 20.000 Mark ausgeben und außerdem den Vertrieb finanzieren. Jetzt die Chance zu haben, ästhetischen Übermut ohne diese Kosten in eine lesende Gesellschaft zu spielen, finde ich aufregend. Und auch als Autor weiß ich, dass wir vor einer Entwicklung stehen, die nicht aufzuhalten ist.

"Fiktion" wird von der Bundeskulturstiftung und vom Haus der Kulturen der Welt mit rund 300.000 Euro unterstützt. Andere müssen ohne solche Förderung auskommen und sind mithin darauf angewiesen, dass für Bücher auch Geld bezahlt wird ...
Wir haben die Möglichkeit, publizistisch Sachen auszuprobieren, von denen Verlage die Finger lassen. Nur Amazon bietet schon jetzt Umsonst-Bücher an, das wird zunehmen, genauso wie Abonnementsysteme. In der Genreliteratur findet das ohnehin schon alles statt. Wir können nun erproben, wie sich im Netz  mit anspruchsvoller Literatur arbeiten lässt. Es ist eine Gelegenheit, überhaupt mal zu gucken, was im Orbit los ist. Wir befinden uns in einer Pionierzeit und da scheint es an der Zeit, Modellprojekte für das Überleben einer Kultur zu fördern.

Wichtig sind also vor allem Leser, nicht so sehr Käufer?
Die Existenz von Autoren steht auf zwei Säulen: Ökonomie und Öffentlichkeit. Es gibt Beispiele aus der Musik, die zeigen, dass durch Öffentlichkeit Ökonomie erzeugt werden kann. Umsonst-Angebote oder preiswerte Vorläufer müssen für den Buchhandel nicht einmal schlecht sein. Deswegen geht es uns auch darum, die Verbreitungs- und Kommunikationswege für den digitalen Markt zu erforschen – und zwar nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt.

Sie werfen den etablierten Verlagen vor, dass sie sich immer weniger für anspruchsvolle Texte einsetzen. Gibt es für diese Bücher noch ein ausreichend großes Publikum?
Das ist kein Vorwurf an die Verlage als solche. Es ist vielmehr eine Feststellung über die herrschende Realität, an der viele Verlage leiden. Die durchschnittliche Verkaufszeit eines Buches sind drei Monate. Dann verschwindet es. Das E-Book hat eine andere Halbwertszeit, das ist ein enormer Vorzug. Wir wählen ästhetisch strenger aus, als sich das ein kommerzieller Verlag leisten kann. Ob das durchsetzungsfähig ist, werden wir sehen. Ich glaube, es werden sich neue Leserschichten bilden, deren Interessen von den kommerziellen Verlagen nicht abgedeckt werden kann.

Beschränken Sie sich ausschließlich auf E-Books?
Ja. Wir machen mit den Autoren aber keine Verträge, die ihnen andere Verwertungen verbieten. Das heißt, die Autoren können nach äußerst kurzer Zeit einen Buchvertrag mit einem anderen Verlag über denselben Titel abschließen.

Die Förderung ist auf zwei Jahre angelegt. Danach können Sie dieses Modell kaum aufrechterhalten.
Das wird sich zeigen, ist aber nicht unsere oberste Priorität. Wenn wir aus dem Modellprojekt einen echten Verlag machen, müssen wir über andere Möglichkeiten der Finanzierung nachdenken: dann könnte  es Beteiligungsmodelle geben oder Crowdfunding oder wir finden einen Stifter. Das sind Fragen, die wir offen diskutieren werden.

Sie haben durch die öffentliche Finanzierung einen Vorsprung gegenüber anderen Startups. Können Sie deren Verstimmung nachvollziehen?
Ein nicht unerheblicher Teil dessen, was wir tun, ist Forschungsarbeit. Alles, was wir entwickeln, kann jeder übernehmen. Wir haben da keinerlei exklusive Rechte, wir sind also keine ökonomische Konkurrenz und verstehen uns daher auch nicht im klassischen Wettbewerb mit Verlags-Startups.

Verändert sich das Schreiben durch das Internet?
Bisher scheint es sich vor allem durch die verschlechterten Marktbedingungen zu verändern. Autoren sind anpassungsfähig. Jeder weiß, was überhaupt noch verkauft wird. Wir sitzen alle immer an diesen Romanen. Als die Edition Suhrkamp erfunden wurde, war das für viele ein Tabubruch. Wie konnte man Originalausgaben derart preiswert im Taschenbuchformat anbieten? Man muss Unselds Entscheidung nicht rundum toll finden, aber fest steht, dass sich dadurch die deutsche Literaturgeschichte verändert hat. Plötzlich gab es Texte von Autoren, die gegenüber einem bürgerlichen Publikum nicht durchsetzbar gewesen wären, allein formal nicht. Und etwas Ähnliches werden wir im E-Book erleben. Es wird neue Formate und neue Leser geben. Es werden formal interessante, außergewöhnliche Texte entstehen.

Welche Programmidee steht hinter Fiktion?
Fiktion ist kein Programmverlag. Wir veröffentlichen das, was wir für literarisch bedeutsam halten, Romane genauso wie Erzählungen und Essayistisches. Wir haben einen Beirat, der Titel empfiehlt und Autoren vorschlägt, die wir mit in die Auswahl einbeziehen. Zehn Titel sollen insgesamt in zwei Jahren erscheinen, parallel auf Deutsch und in englischer Übersetzung oder umgekehrt.

Das klingt kompromisslos. Ist Fiktion die Quintessenz Ihrer Arbeitsbiografie?
Mit den kommerziellen Verlagen abgeschlossen zu haben, bereue ich nicht, das hat mich inhaltlich nicht mehr interessiert. In den Verlagen ist immer mehr Marketing-Durchsetzung notwendig und immer weniger das gefragt, was in meinen Augen die Arbeit als Lektor ausmachen sollte. Fiktion ist der Versuch, mit dem, was wir können, etwas Neues anzufangen. Es ist ein Blick zurück nach vorn, wie Klaus Wagenbach sagen würde.