Darmstadt steht derzeit im Zeichen des 200. Geburtstages des Schriftstellers, Mediziners und Revolutionärs Georg Büchner. Büchner-Zitate an Gebäuden und zahlreich Plakate weisen auf das Jubiläum hin, das mit vielen Veranstaltungen, so einer großen Ausstellung, gefeiert wird. Passend dazu überreichte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gestern den renommierten Georg-Büchner-Preis im Staatstheater Darmstadt − in einer schnörkellosen, über zweistündigen Veranstaltung.
Akademie-Präsident Heinrich Detering lobte den "erfrischend unfeierlichen Spielwitz" von Sibylle Lewitscharoff, "die in ihren Romanen mit unerschöpflicher Beobachtungsenergie, erzählerischer Phantasie und sprachlicher Erfindungskraft die Grenzen dessen, was wir für unsere Wirklichkeit halten, neu erkundet und in Frage stellt."
Die Berliner Journalistin und Autorin Ursula März hielt auf der blau hinterlegten Bühne, rechts ein riesiger rot-gelber Blumenstrauß, im Großen Haus des Staatstheaters die Laudatio. Zur großen Freude der zahlreichen Zuhörer auf den schmucken roten Sitzen im Theatersaal holte sie den "Kollegen Dackel" als tierische Figur in Lewitscharoffs Texten ins Rampenlicht − als Kontrast zum "Blumenberg"-Löwen, zum Löwen als "eine Art Superstar der Symbole". Der stummelbeinige Vierbeiner fungiere etwa im Roman "Montgomery", er heißt dort übrigens Schnacks, als "Anstifter familiärer Humanisierung". Ursula März kennzeichnete die Preisträgerin, der das Publikum bei Lesungen "an den Lippen hängt", als Femme de Lettre, mit einem "geistigen Temperament, das in Ernstfall die polarisierende Schärfe nicht scheut". Sei es, wenn sie den kulturellen Vulgarismus verdamme, die Wahrung des Urheberrechts oder die Überlebensfähigkeit ihres Verlags (Suhrkamp) einfordere. Den Hinweis auf frühere Experimente der Autorin mit LSD, was die Arbeit an ihrem phantastischen Realismus wohl beflügelt habe, scherzte März, goutierte das Publikum mit Beifall. Die Romane der Preisträgerin stünden für ästhetische und sprachliche Pracht. Sie "sind Zeugnisse des Schönen, des Komischen und des Ergreifenden", so Ursula März – dabei des Öfteren ein Dackel als heimlicher Held.
"Eine wunderbare Laudatio meiner Freundin", erwiderte die sichtlich erfreute Sibylle Lewitscharoff, "so was Schönes". In ihrer Dankensrede zeigte sich die 59-Jährige, der schwäbische Dialekt der gebürtigen Stuttgarterin schwang dezent mit, dann streitbar. Zunächst reflektierte sie über die mögliche (Lese-)Zukunft ihrer Bücher in Zeiten von Big Data: Moderne Technologien wären nur zum Schein Erinnerungsbehälter. "Allein durch die Masse des Gespeicherten", so ihre Auffassung, "findet ein radikaler Erinnerungsverlust statt." Durch die damit verbundende Unsortierbarkeit sei auch ein radikaler Qualitätsverlust der Tradierung verbunden. Nach diesen kritischen Worten widmete sie sich, ausgehend von Büchners Erzählung "Lenz" (der Theaterautor Büchner bedeute ihr wenig, gab sie zu), ihrer Vorliebe als Autorin für Verrückte und Vereinsamte. Die "geistige Zerrüttung ist auch mein höchstpersönliches Hausthema", erklärte die Preisträgerin − und ließ zwei Beispiele aus der "extremen Sonderlingswelt" folgen. Schließlich beklagte sie neue Formen der geistigen Wirrnis, dem "Börsenfieber verfallene Menschen" oder junge Leute, "die unentwegt vor ihren Bildschirmen hocken und dadurch realitätsuntauglich werden" (ein Blick auf den Altersschnitt in den Zuschauerrängen schien der Mahnerin Recht zu geben). Dabei ließ sie auch die Frauenbewegung in Deutschland und den USA nicht aus, wertete sie als "Trampolin für ausgeschnitzte Verrücktheiten" − verwies etwa auf die "Grammatikschändung" der Bürokratie.
Im Foyer des Staatstheaters signierte Sibylle Lewitscharoff im Anschluss an die Veranstaltung am Büchertisch des Georg Büchner Buchladens ihre Titel – bis sie zum nächsten Termin fortgezogen wurde.
Sibylle Lewitscharoff hat für ihr Werk bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten: 1998 für "Pong" den Ingeborg-Bachmann-Preis, 2009 für "Apostoloff" den Preis der Leipziger Buchmesse und 2011 für "Blumenberg" den Wilhelm-Raabe-Preis − um nur einige aufzuführen.
Weitere Preise an Angelika Neuwirth und Wolfram Schütte
Nicht unterschlagen werden sollen die zwei weiteren Auszeichnungen, welche die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung am Samstag überreichte. Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay 2013 (20.000 Euro) ging an den langjährigen Kultur-Redakteur der "Frankfurter Rundschau" Wolfram Schütte. Der 74-jährige habe als "enthusiastischer Journalist das geistige Leben der Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt", so die Akademie. Seit den 60er Jahren habe er der "konservativen Deutungshoheit über den Kanon der deutschen Literatur neue Lesarten entgegengesetzt" und die Filmkritik im Feuilleton etabliert. Die Laudatio auf den "unmissverständlichen Linken" hielt der ZEIT-Redakteur Thomas Assheuer. Schütte bedankte sich mit eine kurzen "Rede über die Filmkritik", steckte mit seinem Schwärmen über die cinematografischen Entdeckungen und Entwicklungen 60er und 70er Jahre abseits vom Hollywood-Mainstream ("Eine wunderbare Zeit!") das Auditorium an. Der Preis ist mit 20.000 dotiert, gestiftet von der Firma Merck, Darmstadt.
Den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2013 konnte die Berliner Arabistik-Professorin Angelika Neuwirth in Empfang nehmen. Das Preisgeld beträgt seit diesem Jahr 20.000 Euro, gefördert durch die HSE Stiftung. Geehrt wurde die Philologin für ihre "bahnbrechenden, von hoher Sprachsensibilität zeugenden Forschungen zum Koran". Der Schriftsteller Navid Kermani nahm in seiner Laudatio die Koran-Verteilaktionen in deutschen Fußgängerzonen zum Anlass, den Koran nicht als Lesebuch sondern als Vortragstext, als "liturgische Rezitation" zu charakterisieren. Weiter ließ er auch den Streit um den Suhrkamp Verlag − im Verlag der Weltreligionen sind Neuwirths Bücher erschienen − nicht unkommentiert. Er würdigte ausdrücklich die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz, "die ein so phantastisches Programm wagt". Kermani und schließlich Angelika Neuwirth versuchten den Koran in einen europäischen Entstehungskontext einzuordnen. Neuwirth habe mit ihren Texten für "die heute immer wichtiger werdende Fähigkeit gegenseitiger Wahrnehmung zwischen Orient und Okzident ein erneuertes Fundament" gelegt, so die Akademie.