Gedenken an Marcel Reich-Ranicki

"Da haben wir etwas verpasst"

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Marcel Reich-Ranicki hat die Karrieren von Schriftstellern wie von Verlegern beeinflusst − doch mit dem Börsenverein gab es so gut wie keine Berührungspunkte. Jürgen Horbach, früher bei der DVA Reich-Ranickis Verleger, denkt in seinem Nachruf über dieses "Nichtverhältnis" nach. Heute Nachmittag findet in Frankfurt am Main die Trauerfeier statt.

Marcel Reich-Ranicki war eine öffentliche Person. Gäbe es eine Steigerungsform von Öffentlichkeit, müsste man sagen, er war öffentlicher als jeder seiner Kollegen. Nicht allein durch die schiere Präsenz in der Zeitung, im Fernsehen, Hörfunk und auf Bühnen. Sondern vor allem durch die Prägnanz dessen, was er mitzuteilen hatte, und durch die Entschiedenheit, mit der er dies tat. Müssen wir, Buchhändler und Verleger, ihm dankbar sein?

Literaturkritik, Theaterkritik, Filmkritik,  Kritik von Ausstellungen bildender Kunst sind ohne Zeitgenossenschaft nicht denkbar. Man muss schon sehr in der Gegenwart leben und über diese hinaus richtunggebende Vorstellungen entwickeln, um literarische Stoffe und die Sprache einer standhaltenden, oft auch überraschenden Bewertung unterziehen zu können. Reich-Ranicki hat immer wieder betont, dass die Essenz des Kritikerdaseins darin bestehe, über die eigene Zeitgenossenschaft hinauszugehen, ihr voraus zu sein. Der Kritiker weist der Avantgarde begleitend den Weg, nicht in eine Postavantgarde, sondern in eine Schwebe, die ein Halten erreichter Niveaus ermöglicht.

Niemand hat daher so polarisiert wie Reich-Ranicki. Dafür wurde er noch in den Nachrufen als arrogant, manchmal zynisch oder polemisch geziehen. Er wusste, dass ihm bei Weitem nicht alle folgen konnten. Dabei schrieb und erläuterte er ohne Unterlass gerade für die vielen Leser, die Begeisterten, die jeden neuen Roman von Grass, Walser, Frisch verschlangen und bereit waren für noch Unentdeckte. Und all denen gab er in seinen Büchern auch Wegweisungen mit für seine Klassiker: von Goethe bis Döblin.

Die Bedeutung von Marcel Reich-Ranicki für Leser, aber auch für Buchhändler und die Verleger, die seine Bücher publizierten, und für Verleger, die Bücher von Schriftstellern publizierten, die er besprach, war immens. Reich-Ranicki war kolossal, und so war auch die Wirkung seiner literarischen Bewertungen auf Verkaufszahlen. Er hat nicht nur Schriftstellerkarrieren gemacht oder beendet, sondern auch die von Verlagen und Verlegern beeinflusst. Mal so, mal so. Wir müssen ihm sehr dankbar sein. Ganz einfach.

Ganz einfach? Nein. Die öffentliche Person Marcel Reich-Ranicki und die Verlage und Buchhandlungen brauch­ten und tolerier­ten einander als Teil des literarischen Betriebs, aber schaut man genau hin, so fällt auf: Da war nichts, keine dokumentierten Ge­­meinsamkeiten. Reich-Ranicki ging es immer um die literarische Sache, aber nie um die Institutio­nen, die sie auch vertreten. Er sprach mit Journalisten, Verlegern, Buchhändlern, immer mit jedem Einzelnen, nie in einem Kollektiv, so wie man mit einem Handwerker spricht, damit der Wasserhahn läuft oder das Auto fährt. Und umgekehrt gab es eine merkwürdige Distanziertheit aller Literaturhand­werker, jeder an seinem Platz, spürbar im Umgang mit dem Titan.

Schaut man ins Archiv des Börsenvereins, so lassen sich nur zwei kleine und mehr als 20 und 40 Jahre zurückliegende Anlässe finden, bei denen Reich-Ranicki, der über Jahrzehnte eine einsame Größe im literarischen Betrieb war, Teil der kulturellen Elite der Nachkriegsrepublik und ein ökonomischer Faktor, als Fest- oder Hauptredner der die Literatur vertretenden Branche in Erscheinung getreten wäre. Mehr noch, es gibt − außer diesen zwei kleinen Anlässen − keinen Preis, keine Ehrung, kein dokumentiertes öffentliches Ereignis, an dem der Börsenverein maßgeblich und als Haupt- oder Mitkraft gewirkt hat, bei dem Reich-Ranicki als Redner, Preisträger, Diskutant oder Befragter wesentlich beteiligt gewesen wäre (sieht man vom Alfred-Kerr-Preis des Börsenblatts ab, der 1983 an das Team der "FAZ"-Literaturbeilage und damit auch an ihn ging).

Weder wurde ihm nach dem Erscheinen seiner Autobiografie der Friedenspreis zuerkannt noch der Geschwister-Scholl-Preis. Und neben allen Gast- und Festrednern, Bundespräsidenten, Bundestagspräsidenten, Ministern, Schriftstellern und Netzpropagandisten, die als Redner oder Laudatoren auftraten, fällt die jahrzehntelange Abwesenheit von Marcel Reich-Ranicki im engeren und weiteren Umfeld des Börsenvereins auf.

Die Literatur und ihre Pflege, so könnte man sagen, ist das einzige ernst zu nehmende politische Ar­gu­ment für eine Wahrnehmung un­se­rer Branche und ihrer rechtlichen Privilegien im Verhältnis zu Öffentlichkeit und Politik. Und genau da bestand zwischen Börsenverein und dem Hauptvermittler von Literatur die größtmögliche Lücke. Keine Nähe, kein respektierter Gleichklang im Dienste der gemeinsamen Sache, kein Missklang, keine Feindschaft. Nur ein Nichtverhältnis. Eine im Nachhin­ein geradezu dröhnende Indifferenz.

Die Bedingung zur Ausübung von Kritik ist neben Kenntnis und Urteilskraft eine größtmögliche persönliche Unabhängigkeit, auch eine weitgehende Abwesenheit von Angst. Reich-Ranicki hatte dies in einem bewunderungswerten Ausmaß. Institutionen misstrauen per se Menschen, die sie nicht beeinflussen können, die nicht formbar oder zweckorientiert sind. Sie haben eine Tendenz zur Beharrung, zur Bewältigung der Gegenwart. Alles muss operativ gestaltbar sein. Ein Kritiker vom Format Reich-­Ranickis geht aber seiner Zeit voran, der Status quo interessiert ihn nicht oder nur als eine Währung, die man tauschen kann.

Passten Börsenverein und Reich-Ranicki einfach nicht zueinander? Es war durchaus möglich, bei aller Reserviertheit von seiner Seite, Reich-Ranicki zu gewinnen oder zu einem Auftritt zu verführen mit einem Podium, Publikum und öffentlicher Widerrede. Das haben viele geschafft. Man musste es manchmal mehrfach versuchen. Instrumentalisieren ließ er sich nie. Die Distanz zwischen dem jahrzehntelang bedeutendsten Vermittler von Literatur und der Institution, die die Literatur zu Recht stets im Banner führt, ist nun durch den Tod unaufhebbar.

Da haben wir etwas verpasst. Schade.  

Jürgen Horbach,
1998−2006 als DVA-Verleger Begleiter von "MRR";   2007−2013 im Vorstand des Börsenvereins

Die Trauerfeier für Marcel Reich-Ranicki findet heute, am 26. September, um 15 Uhr auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt am Main statt.