Neu im Regal: Lesetipp der Woche

Bröckelnde Fassaden

27. Februar 2015
von Stefan Hauck
Ungewöhnlich, wenn ein freundlicher Herr den Koffer die Treppe hinaufträgt und dann am Bahnsteig tot zusammenbricht. Noch ungewöhnlicher, dass der Fremde ein anderer war, als in seinem Pass steht. Franz Hohler lässt seine Protagonistin Isabelle nach und nach die tragische Geschichte eines Mannes enthüllen, dem in seiner Jugend gezielt alle Chancen genommen wurden.

Fast könnte man meinen, es sei ein Krimi: Unerschöpflich legt der Schweizer Erzähler Spuren aus, um ein Schicksal zu dokumentieren, das tragischerweise kein Einzelfall gewesen ist. Der Auftakt versprüht Sorglosigkeit, eine Pflegefachkraft namens Isabelle Rast macht sich von Zürich auf den Weg zum Flughafen, um nach einer Operation mit einer Freundin zwei Wochen Sonne auf der Insel Stromboli zu tanken. Ein netter älterer Herr bietet ihr am Bahnhof an, den schweren Koffer die Treppe hochzutragen, doch kaum oben angekommen, sackt er zusammen, murmelt ihr ein letztes »Bitte ...« entgegen und verstirbt.

Der Zug ist weg, der Flug damit ebenfalls, und auch der Urlaub, denn Isabelle muss sich zu Zeugenaussagen bereithalten und fühlt sich überfordert. Als das Handy des Toten in seiner Mappe, die sie verstört eingesteckt hatte, klingelt und eine Männerstimme barsch sagt, Marcel solle sich bloß nicht morgen auf dem Friedhof einfinden, ist Isabelles Neugier und die des Lesers geweckt. Sie geht hin und beginnt eine zunächst zögerliche Spurensuche nach der Identität des Toten, der Martin Blancpain heißt und kanadischer Staatsbürger ist. Dass dies nur die halbe Wahrheit sein kann, wird klar, als Isabelles Tochter Sarah ebenfalls ermittelt, nachdem Blancpains Ehefrau Veronica in Zürich eintrifft. Die drei Frauen bilden eine sich gegenseitig stützende Einheit, in der Vertrautheit, Fürsorge, Erkenntnisgewinn und Annäherung entstehen.

Demgegenüber steht eine überaus schroffe Wand der verschwiegenen Verwandschaft, Ablehnung, die einen dunklen Punkt in Blancpains Leben vermuten lässt. Nach und nach fügt Hohler die Bausteine des traurigen Lebens des unehelichen Sohns einer Magd ineinander, der ihr nach der Geburt weggenommen und als Verdingkind zu Bauern gegeben wurde. Aktenvermerke, Dokumente, Gespräche vermitteln das Abgestempeltsein dieser Kinder, denen jegliche Chancen von vorneherein entzogen wurden. Gekonnt kontrastiert Hohler menschliche Wärme mit gesellschaftlicher Gefühlskälte, hält die Spannung wohltemperiert aufrecht, zeigt schwache Figuren, die erst am Ende ihres Lebens den Mut zur Wahrheit und zum Fragenstellen aufbringen und enthüllt die Geschichte eines Mannes, der stets das Gute wollte und es erst außerhalb der Schweiz mit einer neuen Identität umsetzen konnte.

Franz Hohler: "Gleis 4". Luchterhand Literaturverlag, 220 S., 19,99 Euro