Der Novitäten-Tsunami kommt

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Man könnte sich doch auch freuen über die Flut von Neuerscheinungen, über die Fülle an Ideen und Einfällen. Immerhin geschieht all das auf eigenes Risiko der Autoren und Verlage. Meint Verleger Jochen Jung. "Gibt es denn nicht überhaupt von allem zu viel, egal ob es Autos sind, Knöpfe, Käsesorten oder Politiker?"

Wenn Sie grad mal Ihr Fenster öffnen, dann hören Sie hinter all dem Straßenlärm oder Vogelgezwitscher (je nachdem, wo Sie Ihre Villa haben) ein leises Grollen, das langsam stärker wird: Das ist die Welle der Herbst-Neuerscheinungen, die da auf Sie zurollt und sich in Kürze als Tsunami herausstellen wird.

Es ist ja wahr: So um die 80.000 Neuerscheinungen in jedem Jahr, das ist eine ganze Menge. Die brauchen wir jetzt gar nicht hintereinanderzulegen, um draufzukommen, dass das eine Kette von Flensburg bis Pernambuco wäre, geschweige denn, wie lange Dieter Moor brauchen würde, bis er das alles gelesen hätte − nein, man muss zugeben, es ist einfach sehr viel, und niemand hat einen Überblick.

Aber hätte man den, muss man da immer wieder fragen, wenn es nur die Hälfte wäre? Oder ein Viertel? Eben. So wie es nicht nur drei verschiedene Sorten Jeans, Hemd oder Sakko gibt, so gibt es in einer Kreativwirtschaft wie der Buchbranche erst recht eine unüberschaubare Fülle der unterschiedlichsten Produkte.

Drehen wir das Ganze doch mal um: Warum freut sich eigentlich niemand über diese Fülle an Ideen und Einfällen, Fantasie und Nachdenklichkeit? Man muss deswegen ja nicht gleich wieder das Volk der Dichter und Denker werden, aber dass sich so viele Menschen abends (oder wann auch immer) hinsetzen und schreiben − ich finde, es gibt Schlimmeres.

Geschieht im Übrigen alles auf eigenes Risiko, und das gilt für die Autoren ebenso wie für die Verleger. Warum sollen die nicht ihre Zeit und ihr Geld so investieren, wie es ihnen gefällt und wie sie es richtig finden? Gibt es denn nicht überhaupt von allem zu viel, egal, ob es Autos sind, Knöpfe, Käsesorten oder Politiker? Wir wissen doch damit umzugehen: Geht uns nicht einfach sowieso das Allermeiste unbemerkt am Allerwertesten vorbei? Man hat seinen Lieblingsjoghurt, sein Lieblingsbier usw., und der Rest ist einem wurscht.

Nun gut, eh wir uns hier verzetteln, zurück zu den Büchern. Wie viele auch immer produziert werden, sie müssen alle durch das Spundloch des Buchhandels und der Rezensenten, und die sortieren aus, dass es nur so eine Freude ist. Kommt pro Saison doch sowieso höchstens 1 % (in Worten: ein Prozent) der Gesamtproduktion da durch, und der Rest bleibt heulend in der Wüste der Nicht-Wahrnehmung.

Wie diese Auswahl zustande kommt, die die Literaturbeilagen und die Tische der Buchhandlungen überall so ähnlich aussehen lässt, das wird vermutlich ein ewiges Geheimnis bleiben. Wenn nicht jener Satz, der schon Generationen von Vertretern in die Depression geschickt hat, der wahre Grund ist: "Brauchen wir nicht."

Falls Sie aber ein ängstlicher Mensch sind und deshalb das Gefühl haben, dass Ihnen gleich der Tsunami einen Haufen Bücher um die Ohren haut − machen Sie das Fenster ruhig zu, lehnen Sie sich zurück und lesen Sie ein paar gute Seiten.

Da steht noch genug Ungelesenes im Regal. Und wenn Sie dann zwischendurch Ihr Buch auf die Knie sinken lassen, dann denken Sie doch mal an die Frau, den Mann im Nebenhaus, der auch grad so vor sich hinschaut und der den richtigen Satz sucht für sein Buch, das wahrscheinlich später von niemandem wahrgenommen wird, vielleicht aber doch eines Abends ausgerechnet auf Ihren Knien liegt.