Lesespuren – Spurenlesen

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Die wahre Avantgarde kauft gedruckte Bücher im stationären Buchhandel. Und zahlt am besten bar. Denn nur der "klassische" Weg garantiert dem Konsumenten halbwegs den Schutz seiner Privatsphäre. Meint Andreas Horn, Vertriebschef der Verlagsgruppe Beltz.

Vor Google, Apple, Amazon und Zalando wussten im besten Fall mein Gemüsehändler von meiner heimlichen Vorliebe für FCKW-belastete Flugmangos, die Besitzerin des Weinladens in meinem Viertel von meinem ab und an erhöhten Verbrauch französischen Weinbrands. Und selbstverständlich kannte die Buchhändlerin meines Vertrauens meine Vorliebe für besonders brutale Krimis à la Don Winslow, obwohl ich so tat, als wären diese für meinen betagten Vater. Sie verlor auch kein Wort darüber, als ich später alle Bände der Fifty-Shades-of-Grey-Reihe erwarb. 

Inzwischen kann mich aber die digitale Rasterfahndung als rücksichtslosen Umweltschädling mit Hang zu Alkohol, Gewalt und Sadismus ausfindig machen, wenn ich meine Bücher bei Amazon, die Musik bei Apple, die Spirituosen beim Weinversand und bald auch die Lebensmittel im Netz kaufe. Mein Konsumentenverhalten wird für immer abgespeichert sein.

Interessant werde ich für die Späher, wenn ich mich, entgegen dem Mainstream, für die Geschichte der RAF interessiere oder für Reisen in "Schurkenstaaten" oder etwas länger bei als skurril geltenden Blogs verweile. Dann wird man vielleicht auf politische oder religiöse oder sonstige Vorlieben schließen und mich näher unter die Lupe nehmen.

Verschwörungstheorie war das noch gestern – aber jetzt ist klar, dass das, was technisch möglich ist, irgendwann auch passiert. Oder würde jemand ernsthaft der Vorstellung widersprechen, dass in Russland oder China der Staat das Leseverhalten seiner Bürger kontrolliert und analysiert.

Volker Oppmann, Verleger des Verlags Onkel & Onkel, hat auf der den Buchtagen vorgelagerten AKEP13 in Berlin seine Vision des anonymen Reading-Portals LOG.OS vorgestellt, das die bedrohte "Freiheit des Denkens" sichern soll. Denn wenn Kaufen und Lesen von Literatur nach und nach digital erfolge, dann begäben wir uns in eine weitere Stufe der Abhängigkeit, so seine Analyse. Amazon, Apple und die Deutsche Telekom mit der Tolino-Allianz von Thalia und Weltbild mögen sich noch so lautstark schützend vor unsere Daten stellen, die Kraft des Staates und seiner Organe ist im Zweifelsfall größer, und wer weiß denn überhaupt, wo der Server steht.

Als Kunden von Amazon und Apple liegen unsere Daten sowieso bereits in Kopie bei den US-Geheimdiensten. Und auch deutsche Telekom-Server werden sicherlich schon fleißig angefragt oder angezapft, wenn es um Verdachtsfälle oder verdächtige "Profile" geht. Die Kämpfer gegen die illegalen digitalen Raubkopierer wissen ebenfalls längst, dass ohne Ausnahme jedes verfügbare E-Book quasi automatisch für den illegalen Weiterverkauf durch Downloadportale wie lesen.to bereitliegt. Aber auch Oppmanns Vision einer neutralen Leseplattform wird es leider schwer haben, uns vor dem staatlichen oder illegalen Übergriff zu schützen.

Somit bleibt für den auf seine Freiheit und Privatheit bedachten Konsumenten allein der bar bezahlte Kauf im stationären Buchhandel so gut wie spuren- und folgenlos, sieht man vom mal kennerischen und mal verschwörerischen, mal zustimmenden und mal indignierten Blick des Buchhändlers seiner Wahl ab. Denn jeder Kauf im Internet mit seiner nachfolgenden Werbeflut in Verbindung mit der schablonierten Lenkung unseres "persönlichen" Geschmacks durch "Das könnte Dir auch gefallen"-Mails ist ein erster Schritt Richtung "gläserner Kopf".

Vor noch nicht langer Zeit galt der E-Book-Leser als Trendsetter, er stand an der Spitze der Entwicklung, er war Avantgarde. Spätestens seit Bekanntwerden des globalen Scannens all unserer Spuren im Internet durch den amerikanischen NSA stellt sich mir die Frage, ob ich weiterhin kräftig mithelfen will, mein gläsernes Abbild im Web mit Daten zu füttern, die vielleicht bald mein zukünftiges Handeln vorhersehbar und auch manipulierbarer machen. Oder ob ich einer neuen Avantgarde angehören möchte, deren Medienkonsum nur wenige Spuren hinterlässt − mein Zeitungs- und Zeitschriftenberg wöchentlich in der blauen Tonne, meine Bücher in meinem Regal und ab und an auf einem Flohmarkttisch in meinem Viertel, wo sich dann weder mein Gemüse-, noch mein Fisch-, noch mein Weinhändler über mich wundern. Mit anderen Worten: Die wahre Avantgarde kauft "klassisch". Die Stunde des klassischen Sortimentsbuchhandels hat geschlagen, aber anders als die Glöckner seines Todesglöckchens es prophezeit haben.