Gastspiel von Jochen Jung über Gedichte

Die kleine Person

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Wenn für die Schwergewichte der Literatur die Zeit fehlt − wie wäre es mit Gedichten? Sie sind leicht zu verstehen wie ein Sonntagabend-Tatort. Und dürfen in der Buchhandlung ruhig mal vorne stehen. Beim Lesen von Gedichten kann man zudem "sein hellblaues Wunder" erleben, meint der Verleger Jochen Jung.

Natürlich sind es erst mal die gewichtigen Kerle, an die man denken würde, wenn man jemandem erklären wollte, wozu Literatur imstande ist. Man würde die Schwergewichte aufrufen, die großen Erzählmaschinen wie "Krieg und Frieden", "Moby Dick", "Madame Bovary" oder auch, je nach Alter und Geschlecht, "Der Pate", "Harry Potter" und von mir aus auch "Shades of Grey". Oder vielmehr: genau das von mir aus nicht.

Denn allmählich begreifen wir ja wieder, worum es in Wahrheit geht: nicht um E-Book oder nicht E-Book, sondern darum, dass überhaupt gelesen wird. Und zwar nicht irgendwas, denn irgendwas wird außer von unseren heimlichen Analphabeten ja von allen gelesen: Preisschilder, Wasserzähler, Strafzettel, Warnhinweise und vor allem alles, was das Netz hergibt.

Nein, wichtig ist allein, dass Literatur gelesen wird, Texte, die diesen Ehrentitel verdienen, Texte, in denen auf subjektive Art Zusammenhänge hergestellt werden, die wir so noch nicht kannten. Manchmal stehen solche Romane auch in der Zeitung und kommen in wenigen kurzen Absätzen trocken formuliert auf den Punkt. Meistens aber sind sie umfangreicher, und wenn sie toll und berühmt sind, können sie auch richtig dick sein (siehe oben).

Und die Zeit dafür hat offenbar nicht jede(r). Zwar hat man immer viel mehr Zeit zum Lesen, als man denkt, aber da man nun einmal fest davon überzeugt ist, keine Zeit zu haben, hat man natürlich auch keine.

Dann eben bitte Gedichte!

Ja, ich weiß, Gedichte sind altmodisch und eingebildet, Gedichte sind Goethe und Schiller, Gedichte sind einfach nicht cool. Außerdem sind sie absichtlich unverständlich, und das ist nicht demokratisch. Haben wir alles schon gehört, ist aber trotzdem nicht wahr.

Sicher wollen Gedichte immer auch etwas Besonderes sein, sie ziehen sich gern extra an und haben viel Sinn für Schmuck. Aber richtig unverständlich sind höchstens drei Prozent, und wenn man nicht doof ist und nur so viel Kombinationsgabe aufwendet wie beim Sonntagabend-Tatort, versteht man auch die etwas raffinierteren. Außerdem ist ein Gedicht ja auch keine Rolltreppe.

Man sollte Neugier mitbringen und Offenheit, aber die haben wir doch immer bei uns, oder? Und man sollte kein Spielverderbertyp sein, dann erschließen sich die meisten auf der Stelle, und man erlebt sein hellblaues Wunder. Man braucht eine Minute zum Lesen, noch eine, bis man begriffen hat, dass man sowieso alles begriffen hat, und schon steht eine hübsche kleine Person vor einem und lächelt einen an.

Ein bisschen eigensinnig kann sie sein, manchmal sogar eitel, bisweilen witzig, bisweilen nachdenklich, verwirrend, bestürzend sogar, aber auf ihre Art immer klug und erfrischend. Und Geschichten erzählen Gedichte ja nicht erst, wenn sie Balladen sind.

Wenn man so überlegt, ist das Beste an Gedichten, dass sie so kurz angebunden sind. Sie haben das mit dem "wenig Zeit" ja eh als erste verstanden und vernünftig darauf reagiert. Gedichte meinen es nämlich gut mit uns. Ja, die Wahrheit ist: Sie wollen eigentlich nichts von uns, außer − uns glücklich machen. Man kann sie darum ruhig mal nach vorne holen. Auch in der Buchhandlung.