Gastspiel von Rainer Moritz über Klappentexte

Kraftvoll und virtuos

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Der Klappentext soll uns kurz den Inhalt eines Buches schmackhaft machen. Wie das gelingen könnte, weiß man theoretisch. Praktisch geht die Sache aber manchmal schief. Rainer Moritz, der Leiter des Literaturhauses Hamburg, über die Tücken einer Textsorte.

Da finden alle naslang gewichtige Symposien statt über die Schwierigkeiten, zeitgemäße Gesellschafts- und Wirtschafts­romane zu schreiben. Und auch die Problemstellungen, vor denen junge Dichter und Dramatiker stehen, werden vielerorts diskutiert und in wissenschaftlichen Arbeiten untersucht. Ja, selbst Essay, Autobiografie, Schlagertext oder Beipackzettelprosa erfahren gebührende Würdigungen. Doch wie steht es um den Klappentext, um jene Textsorte, die Lektoren (und Autoren) an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringt und die für die ratlosen Kunden am Novitätentisch von so immenser Bedeutung ist?

Klappentexte zu schreiben, ist mühsam. Sich über Klappentexte zu mokieren, ist leicht, vor allem wenn man auf die hintere Umschlagseite, die U4, blickt, die beim verschweißt gebliebenen Buch die einzige Möglichkeit ist, sich über den in die Hand genommenen Roman zu informieren. Was sollen Klappentexte leisten? Hören wir, wie es sich gehört, auf die Fachwissenschaft und lassen uns von Gérard Genette (in seinem Buch "Paratexte") erklären, dass die "Umschlagseite vier strategisch von größter Bedeutung" ist. Sie soll uns, kürzer als die U2 und ohne zu viel zu verraten, die Handlung des Buches schmackhaft machen, keinen Zweifel an dessen Qualität lassen und rühmende Epitheta in der richtigen Dosis präsentieren.

Um sich die Sache leichter zu machen, stöbert man im Pressearchiv und verweist darauf, dass Elke Heidenreich oder Denis Scheck den zur Rede stehenden Autor in der Vergangenheit aufs Artigste gelobt haben. Das macht sich gut und erspart Zeit und Müh. Bei Übersetzungen helfen Zitate aus der Auslandspresse, wobei man das aserbaidschanische Wochenblatt nicht als erste Referenz heranziehen sollte. Und wenn einem gar nichts einfällt, sucht man nach einer "schönen" Stelle, nach einer Romanpassage, die so packend ist, dass sie mehr sagt als 1.000 Marketingworte.

So weit die Theorie. Doch sobald wir auf die Praxis schauen und − Verzeihung! − konkreter werden, lässt sich ein gewisses Missvergnügen nicht leugnen. Ja, es scheint so, als sei in den Lektorats- und Marketingabteilungen Müdigkeit eingezogen, eine Erschlaffung, die dazu führt, dass man zu den immergleichen Adjektiven flüchtet. Virtuos, meisterhaft, glänzend und − besonders beliebt − groß führen die Hitliste der austauschbaren Lobpreisungsvokabeln an. Neuerdings schickt sich das gegen alle anämische, staubtrockene Kopf­geburtenprosa ankämpfende "kraftvoll" an, die oberen Plätze zu erobern.

Meine Favoriten des Frühjahrs? Vielleicht jener Zweitling einer Berliner Autorin, der auf der U4 neben einem Textzitat und dem Blurb einer Kollegin so angepriesen wird: "Eine Geschichte von dunklen Geheimnissen und letzten Hoffnungen, mal unfassbar komisch, dann wieder abgrundtief traurig, immer befreiend − vom ersten Satz bis zum letzten." Alles klar, keine Fragen mehr. Und was ist davon zu halten: "Die schönsten, liebsten und originellsten Aphorismen und Anekdoten des größten amerikanischen Schriftstellers − boshaft, geistreich, witzig wie nie zuvor." Mehr an Superlativen geht kaum. Aber was sind "liebste Aphorismen"? Besonders putzige? Und was heißt "witzig wie nie zuvor"? Vor wem oder was?

Sie sehen, es gibt in der Klappentextforschung noch viel zu tun. Kolumnen und Glossen sind übrigens auch sehr schwer zu schreiben.