Die Sonntagsfrage

Welche Auswirkungen hat ein neues russisches Kinderschutzgesetz auf deutsche Kinderbuchverlage?

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Russland hat ein Gesetz zum „Schutz der Kinder vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden“ erlassen. Renate Reichstein, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen avj, hat auf der Buchmesse in St. Petersburg mit deutschen und russischen Verlagskollegen über die Auswirkungen gesprochen.
"Das neue Gesetz ermöglicht eine massive Einschränkung in Bezug auf die Inhalte der Bücher. Es ist problematisch, weil es sehr weit gefasst ist – alle Kinderbücher, die den Wert der Familie oder die Autorität der Eltern infrage stellen, die Gewalt, Sexualität, Tabak- und Drogengenuss schildern oder Schimpfwörter enthalten, müssen mit der Altersangabe 18+ gekennzeichnet werden. Damit fallen viele Bücher deutscher, österreichischer und Schweizer Verlage als Lizenz weg, in denen die Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen ungeschönt dargestellt werden. Scheidung, Auflehnung gegen Eltern und Erwachsene, Missbrauch, Spielsucht, all diese Themen widersprechen dem Ziel, eine heile Welt im Kinderbuch darzustellen. Ein „Jim Knopf“ darf dann erst ab 18 Jahren gelesen, weil der rauchende Lokomotivführer Lukas keine Vorbildfunktion für die Kinder haben darf. Nur funktioniert das Heraufsetzen der Altersangabe ja nicht in Wirklichkeit, weil man sich dadurch nur noch mehr von der kindlichen Zielgruppe entfernt.

 

Ebenfalls problematisch ist, dass Text wegen der angeblich besseren Lesbarkeit künftig nur noch auf weißem Untergrund gedruckt werden soll. Den gibt es in vielen unserer Bilderbücher gar nicht, da ist der Text in die Bilder integriert. Möglicherweise müssen bei Lizenzen dann weiße Kästen geschaffen werden, die dann im Layout störend wirken. Das wird zu Diskussionen mit den Urhebern und mehr Arbeit in den Verlagen führen.

Die Auswirkungen auf das Lizenzgeschäft durch diese Beschränkungen sind immens. Denn der russische Buchmarkt ist für uns deutschsprachige Kinder- und Jugendbuchverlage sehr interessant, wir haben ja bislang viele Lizenzen dorthin verkauft. Das wird sich nun mit Sicherheit ändern. Auch die russischen Verleger, mit denen ich hier in St. Petersburg gesprochen habe, sind über das Gesetz unglücklich und sagen: Wir verlieren unsere Leser, wenn wir sie nicht mit adäquatem Lesestoff versorgen können. Denn Kinder und Jugendliche merken recht schnell, dass die reale Welt dann in den Büchern ausgeblendet wird – ihre eigene Realität, die sie im Alltag erleben und worüber sie im Internet lesen.

Momentan herrscht hier auf der St. Petersburger Buchmesse eine angespannte Atmosphäre. Da nun jeder Buchkäufer, jeder Bürger einen Verlag verklagen kann, wenn in Kinder- und Jugendbüchern die eingangs beschriebenen Werte in Frage gestellt werden, sind die Verleger hier sehr verunsichert, haben ein Gefühl, als lebten sie unter dem Damoklesschwert. Sie werden risikoarm Lizenzen einkaufen, und wir deutschsprachigen Verlage werden viele gute Titel nicht mehr verkaufen können. Der russische Kinder- und Jugendbuchmarkt, der sich in den vergangenen 20 Jahren immer mehr für internationale Autoren und Illustratoren geöffnet hat, beginnt sich wieder zu schließen."