Literaturfestival auf dem Monte Verità

Den Mythos des Bergs neu beleben

20. Juli 2015
von Holger Heimann
Im schweizerischen Ascona hatte jetzt ein neues Literaturfest Premiere: Das "Eventi Letterari Monte Verità". Das viertägige Festival (21.−24. März) erinnerte unter der Überschrift "Utopien und herrliche Obsessionen" an den legendären Berg der Wahrheit als Ort der Künstler und Freigeister. Mit dabei waren unter anderem Claudio Magris, Hans Magnus Enzensberger und Peter Sloterdijk.

Die Höhe ist es nicht, die den Monte Verità, den Wahrheitsberg im Tessin berühmt gemacht hat. Denn tatsächlich ist es nur ein Hügel, 321 Meter hoch. Die Anziehung rührt von etwas anderem. Und sie führte dazu, dass eine ganze Reihe von Schriftstellern und Künstlern zu Beginn des vorigen Jahrhunderts vom kleinen Fischerdorf Ascona am Lago Maggiore hinauf den Monte Verità, den Berg der Wahrheit, erklommen. Hermann Hesse, Oskar Maria Graf, Erich Mühsam, Hugo Ball, Hans Arp − alle waren sie da, getrieben von Neugier. Denn geleitet von der Sehnsucht nach einem anderen, wahrhaftigeren Leben hatte eine Kommune von Aussteigern und Freigeistern ihren Traum vom Idyll verwirklicht. Zwanzig Jahre währte das lebensreformerische Experiment der nackten Sonnenanbeter, glaubensfesten Vegetarier und hingebungsvollen Propheten. An das kulturelle Erbe der Utopisten anzuknüpfen und den Mythos des Bergs neu zu beleben − dies war jetzt das Ziel des viertägigen Literaturfestivals Monte Verità

"Der Monte Verità ist ein bisschen eingeschlafen. Wir wollen ihn aufwecken", sagt Marco Solari, Präsident des Filmfestivals in Locarno und Chef des Tourismusverbandes der Region. Sein Idee: "Machen wir etwas mit Ambition. Versuchen wir ganz große Namen unserer heutigen Literaturszene zu gewinnen." Letzteres ist gelungen: Hans Magnus Enzensberger und Peter Sloterdijk sind nach Ascona gekommen, aus Frankreich ist Mathias Énard angereist, aus Moskau Vladimir Sorokin − eingeladen, um nachzudenken über "Utopien und herrliche Obsessionen".

Für den Triester Schriftsteller und Friedenspreisträger Claudio Magris, der am Donnerstagabend eine programmatische Eröffnungsrede hielt, ist die Vorstellung von einer anderen Wirklichkeit, neben der offensichtlichen, überlebensnotwendig: "Was ich schrecklich finde, ist diese Stimmung, die überhaupt nicht mehr an die Zukunft denkt", sagte er. Die Welt müsse aber nicht nur verwaltet, "sondern auch gerettet" werden. Keiner hat das in Ascona nach Magris so deutlich ausgesprochen; diagnostiziert wurde vielmehr eine große Utopiemüdigkeit.

Hans Magnus Enzensberger hat dereinst ein Gedicht mit "Utopia" betitelt und darin Unordnung und Anarchie als paradiesische Zustände gefeiert. Doch das ist lange her. In seinem Buch "Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin", in dem er eine ganze Reihe gescheiterter Projekte aufgelistet hat und aus dem er in Ascona vortrug, steht stattdessen: "Triumphe halten keine Lehren bereit. Misserfolge dagegen befördern die Erkenntnis." Jammern sei ohnehin unproduktiv, sagte Enzensberger und jedes Scheitern außerdem relativ: "Weil ich mir etwas vorgenommen habe, was nicht einlösbar ist."

Die für ihn so typische Heiterkeit scheint leicht und beschwingt zu machen: zu Fuß ist der 83-Jährige den Berg hinaufgegangen, ganz so wie dessen Bewohner vor hundert Jahren auch. Auf die ferne Zeit blickt er mit einer Mischung aus Belustigung und Sympathie, "Mini-Utopien" hätten durchaus "einen gewissen Charme", beruhten sie doch anders als die großen politischen Utopien auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.

Folgt man Peter Sloterdijk, so ist auf dem Monte Verità ohnehin nur ein Projekt, nicht aber eine Utopie gescheitert. Der Karlsruher Philosoph beklagte eine Begriffsverwirrung und forderte mehr Genauigkeit in der Diskussion: Zu unterscheiden sei zwischen Utopien und Projekten; misslingen könnten nur letztere. Utopien dagegen definierte er als "Gegenbilder zur Wirklichkeit" und somit als Maßstäbe. "Maßstäbe aber scheitern nicht, sie werden angelegt oder nicht angelegt. Sie werden aktualisiert oder nicht aktualisiert."

Das Experiment der frühen Hippies vom Monte Verità scheint von heute aus betrachtet jedoch eher Attraktion als Maßstab zu sein. Impulse für den ohnehin zuweilen unbestimmten Utopiediskurs während des Festivals lieferte die Vergangenheit jedenfalls kaum. Vielleicht sollte man bei einer Premiere aber auch nicht zu mäkelig sein und allein schon die Idee und die Energie, mit der sie in die Tat umgesetzt wird, preisen.

Trotzdem: Zu den herausragenden Literaturfesten wird man Ascona nach diesem Auftakt wohl noch nicht zählen können. Dafür war vom einstigen Zauber des Monte Verità dann doch ein bisschen zu wenig zu spüren während der Tage. Dem ambitionierten Programm ist das noch am wenigsten anzulasten, auch wenn nicht bei jedem Auftritt die Verbindung zum Grundgedanken des Festivals offensichtlich wurde.

Vielmehr dämmert der Berg selbst noch vor sich hin. Der Ort der Freigeister und Utopisten ist zu einem Kongresszentrum der Zürcher Universität geworden. Dominiert wird er von einem Hotel im Bauhausstil, das der Bankier Eduard von der Heydt 1929 errichten ließ, nachdem er das legendäre Areal vorher erworben hatte. Es ist ein eher kühles Ambiente für die Auftritte der Schriftsteller, Philosophen und Musiker − weit entfernt von den Szenen der Ausgelassenheit, die sich hier einst abgespielt haben müssen. Die Gebäude von damals stehen derweil verlassen. So ist die Casa Anatta, das 1902 erbaute Wohnhaus der Gründer der Naturistenkolonie seit 2009 geschlossen. Der großartige Bau, der mit den abgerundeten Ecken ganz dem theosophischen Geist seiner Bewohner entsprach, ist eingerüstet. Ein Notdach verhindert, dass es weiterhin in die Casa Anatta hineinregnet. Dieses Jahr soll endlich mit den Renovierungsarbeiten begonnen werden, 2015 dann die ausgelagerte Ausstellung zur Geschichte des Monte Verità zurückkehren. Noch mehr Zeit dürfe nicht ungenutzt verstreichen, mahnt Andreas Schwab, Chronist des Wahrheitsberges: "Wenn der Monte Verità von seiner Vergangenheit entkleidet ist, ist er ein Seminarhotel, wie es viele andere gibt", klagt er.

Unstrittig ist es dem Festival gelungen, an die berühmte Vergangenheit zu erinnern. Eine Stimmung, die den Berg erneut zu einem Magneten machen könnte, muss sich hingegen noch entwickeln. Einen Anfang gibt es jetzt.