Roundtable zur französischen Literatur

Respektlos gegen die Klischees

20. Juli 2015
von Börsenblatt
Zum Salon du Livre hat boersenblatt.net ein Roundtable über die Wechselbeziehungen zwischen französischen und deutschen Verlagen geführt: Wer sucht was? Mit dabei waren Anne-Solange Noble, Leiterin der Abteilung Auslandsrechte bei Gallimard, Literaturagentin Cathérine Houssay und Secession-Verleger  Christian Ruzicska.

Gibt es Regeln, was man von Frankreich nach Deutschland gut exportieren kann?

Noble: Ja. Sex und Tabubrüche gehen immer, ob das  nun ein literarisches Werk ist wie „La vie sexuelle de Cathérine M.“ oder ein triviales wie „Diese grauen Schatten“. Sachbücher aus Wirtschaft und Recht gehen weniger als Romane und Essais, weil im Sachbuch die Länder meist ihre eigenen Autoren haben. In der Geschichtsabteilung interessiert heute eher, wie etwa die einzelnen Familien den Nationalsozialismus erlebt haben und erinnern, als allgemeine Theorien, wie Hitler möglich war. Zum Beispiel gibt Gallimard demnächst „Opa war kein Nazi“ heraus von Welzer, Moller und Tschuggnall, das einzelne Familiengespräche und Interviews auswertet.

Houssay: Die deutschen Sachbücher sind überwiegend von Deutschen oder von Amerikanern geschrieben: Die Deutschen bewundern die USA ...  Und Autofiktion, Autoren, die fast unverändert ihre eigene Lebensgeschichte zum Roman verarbeiten, geht in Deutschland gar nicht, war aber in Frankreich lange Zeit der Renner, etwa Emmanuel Carrère.

Noble: Aber nicht jeder An- oder Verkauf gehorcht solchen Regeln. Als Leiterin der Auslandsrechte bei einem führenden Verlag fragt man auch nicht: "Warum ist das und das Buch noch nicht übersetzt?",  sondern: "Warum zum Teufel soll dieses Buch übersetzt werden?" Und das ist bei den hunderten Büchern, die ich durchsehe, der Fall, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss das Buch wunderbar geschrieben sein, einen außerordentlichen Stil haben, zweitens muss es eine großartige Geschichte erzählen. Vor zwei Jahren habe ich an Rowohlt die Lizenzen zu Claude Lanzmanns Autobiografie "Le lièvre de Patagonie" verkauft. Die hat er mit 84 Jahren geschrieben. Lanzmann war mit 16 Jahren im Widerstand gegen die Nazis aktiv. Er hat den Algerien- und den Korea-Krieg miterlebt und war bei der Gründung Israels dabei. Er ist Journalist, war der Liebhaber Simone de Beauvoirs, er hat das ganze 20. Jahrhundert gesehen!

 

Gibt es exzellente Bücher, die lange Zeit im anderen Land unbekannt bleiben?

Houssay: Arno Geigers "Der alte König im Exil" lässt sich in Frankreich nur schwer verkaufen. Das Buch spielt in Wien und ist voller Straßen- und Ortsnamen, die man nur als Wiener oder Österreicher kennt. Französische Leser sind da völlig verloren, wegen der vielen deutschen Namen, dieses Argument spielt eine wichtige Rolle, und erschwert den Zugang zu diesem wunderbaren Text außerordentlich.

Ruzicska: Oder nehmen wir Niklas Luhmanns Buch "Soziale Systeme", das ist in Deutschland dankenswerter Weise aus der theoretischen Diskussion an den Universitäten nicht mehr wegzudenken, in Frankreich aber kennt es kaum jemand: Ich kann nur hinüberrufen: Lest Niklas Luhmann, mes amis!

Houssay: Hélène Bessette hat in den 50er-Jahren den roman poétique erfunden: Sie war trotz dieser Avantgarderolle hierzulande wie auch im deutschen Sprachraum viel zu lange völlig unbekannt. Jetzt wird sie in Frankreich als Wiederentdeckung gefeiert, ich habe ihr Werk an Christian Ruzicska vermitteln können, der so begeistert ist, dass er in Deutschland eine vollständige Ausgabe ihres Werkes in Zusammenarbeit mit der hiesigen Verlegerin macht und damit erfolgreich ist, zwei ihrer Titel sind in der Presse bereits begeistert aufgenommen worden: so macht Vermittlung von Kultur Sinn und Freude!

Ruzicska: Mit Bessette sind wir jetzt in der zweiten Auflage.

Am 8. März erscheint in Ihrem Verlag Secession Ihre Übersetzung des goncourt-gekrönten Romans  "Le sermon sur la chute de Rome" von Jérôme Ferrari unter dem Titel: "Predigt auf den Untergang Roms". Warum denken Sie, dass Ferrari in Deutschland ankommt?

Ruzicska: Der Roman spielt in einem korsischen Dorf, wo zwei Philosophie-Studenten, nachdem sie sich durch die Universität und deren Wertekanon verraten fühlen,  sich die "beste aller möglichen Welten" mit Hilfe einer Bar errichten wollen. Ihnen fehlt es an Sinn, Lebenssinn. Sie meinen, diesen in einer Dorfkneipe etablieren zu können. Das Leben aber ist umfangreicher, intensiver, und im buchstäblichen Sinne unfassbar. Es birgt Überraschungen, Ungeahntes: seine eigenen Gesetze eben, ähnlich der griechischen Tragödie: Die Katastrophe lauert unerwartet auf bekanntem Terrain! Kein Wunder, dass Ferrari es aufs Ungeheuerlichste gelingt, den faktischen Niedergang Roms im Jahre 410 mit unserer Zeit in Verbindung zu bringen. Und dann hat Ferrari ja einen extrem poetischen und wortreichen Stil, baut wunderbare, überraschende Bilder,  schafft durch eine musikalische Anordnung der Sätze eine Kraft, der man sich nicht mehr entziehen kann. Sein erster Roman "Und meine Seele ließ ich zurück" hat sich in den vergangenen beiden Jahren jeweils 2.000 Mal verkauft. Auf der Lesung im Literarischen Colloquium Berlin war das Publikum begeistert.

Houssay: Ein emotionaler Atem geht von den Sätzen dieses Autors aus. Als ich Christian Ruzicska den ersten Roman von Ferrari. "Un dieu, un animal" vorschlug, hat er gleich gesagt: "Den machen wir!"

 

Manchmal werden durch Übersetzung auch Romane wiederentdeckt ...

Housay: Christoph Meckels "Suchbild. Über meine Mutter" ist so ein Fall. Das Buch ist schon vor 25 Jahren bei Flammarion erschienen. Dann hat der Autor vor fünf Jahren eine Art Fortsetzung veröffentlicht:  "Suchbild. Über meinen Vater". In beiden Büchern vermittelt er eine ganz neuartige Sicht auf das Deutschland der Nachkriegszeit. Deshalb habe ich ihn dem französischen Verlag Quidam vorgeschlagen, und er hat in einem Band beide Bücher herausgegeben. Diese Freiheit habe ich als Literaturagentin. Mein Credo ist: Deutsche und französische Autoren bekannt machen, die im jeweils anderen Land noch nicht bekannt sind.

Ruzicska: Als unabhängiger Verleger habe ich ein ganz ähnliches Credo wie Cathérine. Wir sind sozusagen "Geschwisterseelen". Wir machen neue und ungewöhnliche Autoren von hoher Qualität bekannt und geben deren Kraft an die Buchhändler weiter, eine Art vitale und intellektuelle Energie. Die sie hoffentlich gemeinsam mit uns über die Bücher an die Leser weitergeben können. 

 

Vorbei die Zeit, in der man Klischees gut exportieren konnte? Die junge Pariserin, die zwar beziehungsmüde ist, aber sich mit einem Geschäftsreisenden noch mal gehen lässt?

Noble: Ich zumindest kenne keinen Roman, der so aufgebaut ist. Was es gibt, sind bewusste Spiele mit Klischees: Wenn Florian Seller in seinem neuen Roman ein Pärchen vorstellt und ihre Streitigkeiten und Schmeicheleien voller Anspielungen auf die deutsch-französische Freundschaft sind, geht das schnell nach Deutschland.

Ruzicska: Es ist mit den Klischees wie mit den Etiketten. Sie leben so lange weiter, wie sie wiederholt werden.  Das ist langweilig. Man kann sich aber auch als Verleger ...

Houssay: … oder Literaturagentin...

Ruzicska: … die Freiheit nehmen, ein schönes neues Denken zwischen  Autoren, Buchhändlern und Lesern aufzubauen. Indem wir mit Worten sagen, was die Etiketten verschweigen und die Bücher beredt machen. Anders gesagt: wachsam sein gegen Klischees, zügig und: respektlos!

 

Christian Ruzicska ist Leiter des Secession Verlags (Zürich/Berlin) sowie deutscher Übersetzer und Verleger des mit dem Prix Goncourt 2012 ausgezeichneten Romans "Predigt auf den Untergang Roms"

Anne-Solange Noble leitet bei Gallimard die Abteilung Auslandsrechte und vergibt seit 1992 jährlich zwischen 30 und 40 Autorenlizenzen an deutschsprachige Verlage (2012: 29; 2008: 42; 2002: 32)

Cathérine Houssay betreibt in Paris die Agentur Literatur Transfer und hat unter anderem Christoph Meckel nach Frankreich (Quidam) vermittelt, Jérôme Ferrari und Hélène Bessette nach Deutschland


Novitäten aus Frankreich im März/April 2013:

Romane und Essays:

Jérôme Ferrari: "Predigt auf den Untergang Roms". Secession, 210 Seiten, 19,95 Euro

Patrick Deville:" Äquatoria. Auf den Spuren von Savorgnan de Brazza". Bilgerverlag, 350 Seiten, 28 Euro

Emmanuel Carrère: "Davos. Im Disneyland der Reichen". Matthes & Seitz, 50 Seiten, 3,99 Euro

Marc Augé: "Die Formen des Vergessens". Matthes & Seitz, 128 Seiten, 12,80 Euro

Byung-Chul Han: "Agonie des Eros". Matthes& Seitz, 73 Seiten, 10 Euro

Marie Darrieussecq: "Prinzessinnen". Hanser, 304 Seiten, 19,90 Euro

Elémir Bourges: "Götterdämmerung". Manesse, 480 Seiten, 24,95 Euro

Sachbücher:

Agnès Guillaumin: "Das bau ich selber an. Ein ganzes Jahr frisches Obst und Gemüse für 4 Personen auf 200 qm". Bassermann Inspiration, 160 Seiten, 16,99 Euro

Jean-Pierre Barral: "Die Botschaften unseres Körpers. Ganzheitliche Gesundheit ohne Medikamente". Irisiana, 288 Seiten, 19,99 Euro

François Cheng: "Fünf Meditationen über die Schönheit". Beck, 160 Seiten, 9,95 Euro