Übersetzen ist eine Kunst

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Eines der Grundmissverständnisse scheint zu sein, dass Originaltexte als Kunst und damit irgendwie unfehlbar angesehen werden, Übersetzungen hingegen eher als Handwerk, meint die Übersetzerin Isabel Bogdan – und erklärt im boersenblatt.net-Blog, warum Übersetzen eine eigene Kunst ist.

"Ach, wenn das auf Englisch ist, dann lese ich doch lieber das Original. Weil, Übersetzungen, weißte, nee. Da geht einfach immer etwas verloren." Schon tausendmal gehört, nicht wahr? Ehrlich gesagt, ich halte das in den allermeisten Fällen für eine Pose. Es klingt ein bisschen schlau, man steht gut da, wenn man durchblicken lässt, dass man auch im Englischen alle Anspielungen und Assoziationen mitbekommt. Überprüfen wird das ohnehin niemand.

Aber es schwingt noch etwas anderes mit: die Ehrfurcht vor dem geradezu heiligen Original. Man will dem Künstler und seiner Kunst so nah wie möglich sein, da soll einem nicht noch ein Übersetzer dazwischenfunken. Dabei ist es ja nun nicht so, dass Übersetzer das Original zerstören würden. Okay, das gibt es auch. Natürlich gibt es Übersetzer, die ihr Handwerkszeug nicht im Griff haben. Ebenso wie es Autoren gibt, die ihr Handwerkszeug nicht im Griff haben, und Lektoren, die das nicht bemerken. Aber um die geht es jetzt nicht.

Gehen wir mal vom Idealfall aus. Der Übersetzer ist der gründlichste Leser eines Texts. Jawohl, auch gründlicher als der Lektor; der Lektor übersieht schon mal einen Satz, der doch nicht ganz stimmig ist. Oder ungeschickt oder sperrig oder unlogisch oder grammatikalisch falsch. Beim Übersetzen fliegt es auf, denn da muss man jeden einzelnen Satz wirklich durchdrungen haben, sowohl als Einzelsatz als auch im Gesamtkontext.

Der Ideal-Übersetzer merkt natürlich auch, welche Besonderheit zum individuellen Stil des Autors gehört, was Methode hat, was Absicht ist und was eine echte Ungeschicklichkeit oder ein Versehen. Und dann? Dann machen wir das Beste draus, teilweise in Rücksprache mit dem Autor oder dem Lektorat, teils stillschweigend, und natürlich immer im Sinne des Texts. Wir pfuschen ja nicht irgendwie darin herum, sondern wollen das Beste für den Text. Dabei wird oft genug eine Menge gewonnen. Und es muss auch nicht zwangsläufig auf der anderen Seite etwas verloren gehen. Nicht mal bei Wortspielen, beispielsweise, die sich ja durchaus nicht immer eins zu eins übersetzen lassen.

Denn glücklicherweise übersetzen wir keine Wörter und auch keine Sätze, wir übersetzen Texte. Wenn wir ein Wortspiel also nicht übersetzen können, dann lassen wir es bleiben und bringen dafür an einer anderen Stelle eins in den Text, wo es im Deutschen gerade passt. Am Ende stimmt die Bilanz, aus einem wortspielreichen Originaltext ist ein wortspielreicher übersetzter Text geworden. Nur stehen die Wortspiele vielleicht an anderen Stellen. Solange dem Übersetzer bewusst ist, dass er es mit einem Text zu tun hat, solange er den Gesamtkontext im Hinterkopf hat, muss bei einer Übersetzung überhaupt nichts verloren gehen. Es verändert sich wohl etwas, im Detail.

Na und? Dafür bekommt man als Leser einen noch mal gründlich durchdachten Text in seiner Muttersprache, den man ganz entspannt und ohne Wörterbuch lesen kann. Eines der Grundmissverständnisse scheint mir zu sein, dass Originaltexte als Kunst und damit irgendwie unfehlbar angesehen werden, Übersetzungen hingegen eher als Handwerk. (Und dass man Handwerkern nicht trauen kann, weiß ja jeder.) Übersetzen ist aber durchaus eine eigene Kunst mit ganz eigenen Ansprüchen und Herausforderungen. Es verlangt einfach eine andere Art von Kreativität. Übersetzer sind Urheber, und Übersetzungen sind Originale mit eigenem Recht und eigenem künstlerischem Anspruch.