Konferenz Tools of Change Frankfurt 2012

Neugier statt Schockstarre

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Fan-Fiction, Piraterie, E-Book-Preise, der Mobile-Boom – die Konferenz "Tools of Change for Publishing" am Vortag der Frankfurter Buchmesse bot ein breites Themenspektrum und Stoff für kontroverse Diskussionen. Ein Bericht von Alexander Vieß.

"Every session has to have at least one mention of '50 Shades of Grey'" – Joe Wikert von O'Reilly hatte die Lacher auf seiner Seite, als er in der Session "Outsmarting Piracy" einen sublim mitlaufenden Gedanken der Frankfurter Tools of Change 2012 prognostizierte. Tatsächlich passte der unerwartete Erfolg der biederen Fetisch-Geschichte gut auf diese Konferenz, lassen sich an ihm doch einige Themen exemplifizieren, die uns dieses Jahr beschäftigt haben. Die überraschendste These stellte Amy Martin auf: '50 Shades' sei gar nicht unter literarischen Gesichtspunkten zu bewerten – vielmehr handele es sich um Fan Fiction, einen Kommentar auf die Twilight-Serie.

In diesem Licht betrachtet konnten auch die anderen Teilnehmer der Session "The evolving role of readers" der S/M-Phantasie etwas abgewinnen. Amy Martin war für Wattpad (www.wattpad.com) anwesend, einer Art Social Network zwischen den Polen Selfpublishing und Fan Fiction. Wattpad wird gerne als Schrittmacher für literarische Talente verstanden: Bereits zwei ursprüngliche Selfpublisher wurden auf Wattpad von Agenten entdeckt und veröffentlichten dann Bestseller für Harper Collins und Simon & Schuster. Fan Fiction bildet dabei längst ein eigenes Genre, allerdings eines, das vom Rezensionsfeuilleton unbeachtet seine Erfolge verzeichnen kann. Im Web versteht sich. Auch die großen Verlage beißen erst an, wenn sich eine große Fangemeinde gebildet hat.

Die Grenzlinien verschwimmen

Laut Anna von Veh von Say Books ist das Internet für diese Art von Selfpublishing wie geschaffen: Es bilde eine Meta-Öffentlichkeit, in der sich Autoren frei genug fühlten, auch ihre Geschichte der Kritik des Lesers zu überlassen. Eine Zeile, die man an diesem Tag noch öfters hören wird: Die Grenzlinien verschwimmen. Die zwischen Verlag und Handel, die zwischen Lektor und Agenten und in diesem Fall die zwischen Autor und Leser. Ohne Blessuren geht dies natürlich nicht vonstatten. Auf die Frage nach lizenz- und urheberrechtlichen Aspekten von Fan Fiction folgt mildes Achselzucken. Nein, eine Lösung habe niemand, aber "die Menschen feiern, was sie lieben. Wir müssen einen Weg finden, ihnen das zu ermöglichen. Autoritäre Positionen haben keine Chance gegen die Liebe des Lesers zu einem kulturellen Produkt." J.K. Rowling habe das verstanden und die Rolle des Lesers auf sehr breiter Basis neu definiert. Sie habe ganz bewusst ihre eigenen Rechte beschnitten, um vom Rückkopplungseffekt der Fan Fiction zu profitieren.

Eine befriedigende Antwort ist das nicht. Ansätze zu einer Lösung des Problems bot aber das international besetzte Panel "Outsmarting Piracy". Die Teilnehmer aus den USA, Russland, Großbritannien und Deutschland stellten jeweils ganz eigene Arten vor, mit E-Book-Piraterie umzugehen. Den vielleicht erstaunlichsten Ansatz verfolgt Russland: Sergey Anuriev von LitRes setzt alles daran, ein bereits bestehendes Distributionsnetz, das laut LitRes zu mindestens 90 Prozent aus illegalen Downloads besteht, in ein legales zu verwandeln: Die Piraterieseiten werden davon überzeugt, ihre treue "Kundschaft" in eine zahlende zu wandeln. Als Belohnung winkt der Status als ordentlicher Shop mit laut Anuriev hervorragenden Conversion rates – Freibeuter zu Handlungsreisenden. Zunächst müsse man aber die auf den Seiten Werbenden überzeugen, nicht weiterhin illegale Angebote zu unterstützen.

Die Janusköpfigkeit der Piraterie-Debatte 

Jens Klingelhöfer von Bookwire betonte die Janusköpfigkeit der Debatte in Deutschland: Immer wieder würde die kulturell-ethische Dimension von Piraterie mit der wirtschaftlichen in einen Topf geworfen. Die Frage sei, ob man unter Piraterie einfach nur das Downloaden kopierter Dateien verstehe oder ein "Mindset", das sich in jüngeren Generationen bereits fest eingeschrieben habe. Obwohl jüngere technologische Fortschritte wie Cloud Reading zumindest eine Eindämmung der Piraterie versprechen, sei das Problem nur auf internationaler Ebene durch Kooperationen und Erfahrungsaustausch lösbar. Dieses Panel war ein vielversprechendes Beispiel dafür.

Solange Cloud Reading und die damit denkbaren Flatrate-Angebote aber noch nicht massentauglich sind, bleibt die Frage nach der Bepreisung von Apps und E-Books eine viel diskutierte. In "Pricing Digital Content" wurde nach jenem "Sweet Spot" gesucht, der die optimale Bepreisung verspricht. Die Erfahrungen sind je nach Land und nach Genre verschiedene. Ann Betts von Nielsen Book setzt aber zumindest für die USA diesen neuralgischen Punkt bei 9,99 Dollar und betont zugleich, das der Sprung von diesem Preis auf 12,99 Dollar in den Augen vieler Kunden gar nicht so gravierend sei, wie vielerorts in den Verlagen noch vermutet. Den Ultra-Niedrigpreisen erteilen die Teilnehmer direkt eine Absage: Man konkurriere nicht auf der Ebene von Ein-Dollar-Downloads, der Verweis auf Qualität würde von Lesern durchaus verstanden.

"Free ist tot!" 

Auch Ashleigh Gardner von Kobo wünscht sich mehr Experimente. Spannend fände sie zeitlich gestaffelte Preise: Für die "Die-Hard"-Fans gibt es eine Vorab-Version für 14,99 Dollar, zwei Wochen später die normale Version für 9,99 Dollar. Das vor zwei Jahren noch ubiquitär diskutierte Free-Modell wird von Moderator Ed Nawotka hämisch abgespeist. Free sei tot. Lediglich Timo Boezemann (A.W. Bruna) scheint Free als Geschäftsmodell so verstanden zu haben, wie Chris Anderson es in seinem so betitelten Buch definierte: Eben nicht als Allheilmittel für Geschäftsmodelle, sondern als ein Ausgangspunkt unter vielen, der viel öfter genutzt werden sollte.

Wie auch in den letzten Jahren bot die TOC neben den Panels und Diskussionen auch den "Innovators Track", innerhalb dessen Startups in einem längeren Pitch ihre innovativen Ideen vorstellen konnten. Eine gute Idee, allerdings wünscht man sich doch ein besseres Briefing der Unternehmen. Teilnehmer, die die TOC besuchen, erwarten mehr als ein paar warme Worte aus dem Marketinghandbuch und die wortlose Vorführung des Imagefilms. Denn so verlockend die Idee von beispielweise Plympton (plympton.com), einer Website, die – angelehnt an den Erfolg neuer TV-Serienformate – versucht, mit Fortsetzungsgeschichten neue Leser zu finden, auch ist, – ein wenig Luft-Rauslassen wäre angebracht.

Kontextangepasstes Erzählen 

Dass es auch besser geht, zeigt ausgerechnet ein Branchenfremder: Ian Forrester, bei der BBC als "Firestarter" angestellt. Forresters Aufgabe ist es, eingefahrene Prozesse im Geschichtenerzählen zu finden und sie radikal zu hinterfragen. Herausgekommen dabei sind unter anderem Formate, die er mit dem Begriff "Perceptive Media" beschreibt: Nicht personalisierte, aber sich dem Kontext anpassende, interaktive Erzählungen, die auf den Standort und auf das Wetter, auf die Bildschirmhaltung und die Tageszeit, auf die Vorlieben und technischen Rahmenbedingungen reagieren. Möglich wird das durch den Boom von Smartphones, die den Herstellern von Games und interaktiven Erzählungen zum ersten Mal objektive Daten zu ihren Benutzern liefern – und die Metadaten gleich dazu.

Der Boom mobiler Geräte war auch Thema der Eröffnungsvorträge von Kelly Gallagher (Bowker), der die neuesten Marktforschungsdaten zum internationalen E-Book-Markt lieferte und Andrew Bud (MEF), der seinerseits Zahlen zu Mobile beisteuerte. Demnach nehmen die Zuwachsraten in den First-Mover-Märkten auf hohem Niveau leicht ab, neue Märkte hätten dafür aber umso größere Zuwächse. Kostenlose Inhalte dienen dabei nach wie vor als Katalysatoren, die zur Etablierung neuer Formate enorm beitragen. Die gute Nachricht: Digitale Zuwächse gehen nicht unbedingt zu Lasten der analogen. E-Books werden also oft als Zusatzmedium zum Buch verstanden. Die schlechte: Digital wird immer noch als weniger wertig wahrgenommen als Print. Ein Punkt, den Verlage bei der Preisfindung digitaler Inhalte beachten sollten. Bud betont die die Besonderheiten von mobilen Endgeräten: Die emotionale Verbundenheit des Nutzers zu seinem Gerät, die Möglichkeit des direkten Kontakts zwischen Anbieter und Kunden, der nahtlose Bezahlvorgang beispielsweise über die Mobilfunkrechnung sowie die ständig sich verändernden Techniken, Anbieter und Betriebssysteme. Das E-Books bei den Absatzzahlen digitalen Contents mit 17 Prozent eher im Long Tail hinter News (31 Prozent), Musik (47 Prozent) und Games (59 Prozent) liegen, ist dabei laut Bud kein Desaster sondern eher ein Abbild der analogen Wirklichkeit.

In der Pause werde ich gefragt, was ich an der TOC so schätze. Und ich kann nur mit einer Binse antworten: Bei der TOC wurde auch dieses Jahr nach vorne geschaut, die Schockstarre anderer Konferenzen begegnet hier einer hoffnungsfrohen und neugierigen Bereitschaft. Die TOC führt vor, wie man der Zukunft entgegenrennt anstatt ihr ängstlich entgegenzuschauen. Sie zeigt, wie der internationale Austausch, das Voneinander-Lernen jenseits aller Konkurrenz und natürlich unterschiedlicher Ausgangsbedingungen hilft. Und man muss dafür noch nicht einmal '50 Shades' gelesen haben.