Open Books

"Raison d’être für das Lesen"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Pünktlich zum Buchmesse-Auftakt wurde auch der Lesemarathon Open Books eröffnet. Zum Auftakt setzten sich die frisch gekürte Trägerin des Deutschen Buchpreises, Ursula Krechel, Romancier Bodo Kirchhoff und weitere literarische Größen auf das Blaue Sofa.

Rund 100 eintrittsfreie Lesungen für ein literaturaffines Buchpublikum – mit diesem lockenden Versprechen eröffnete Frankfurts Kulturdezernent Felix Semmelroth feierlich die Lesereihe Open Books traditionell im Frankfurter Schauspiel mit Blick auf die vom Occupy-Portestcamp geräumte EZB. Der Ausblick auf das Bankenviertel passte nicht nur auf die Ex-Bankerin und Sachbuchautorin Susanne Schmidt ("Das Gesetz der Krise. Wie die Banken die Politik regieren"). Mit Ursula Krechel und Bodo Kirchhoff wurden zwei tief mit Frankfurt verwurzelte Autoren Talk-Gäste ganz unterschiedlichen Formats zu Werbeträgern für das Lesen.

Wolfgang Herles geschickten Fragen führten zu einem gleichermaßen rasanten und geistreichen Schlagabtausch mit der  Trägerin des Deutschen Buchpreises: Herles: "Sie haben unwahrscheinlich viel Zeit in Archiven für ihren Roman 'Landgericht' verbracht … " Krechel: "Ich bin nicht spinnwebenbedeckt aus den Archiven gekommen. Weil ich selektiv lesen und gezielt fragen konnte, habe ich nur zwei Wochen lang Archive besucht" …  Herles: "Wieso eigentlich dieser Roman? Das Thema Nachkriegsdeutschland ist doch aufgearbeitet und füllt ganze Bibliotheken" … Krechel: "Das Thema Remigration ist neu! Es sind vor allem junge Historiker, die nun erstmals Akteneinsicht erlangen können und sich erstmals detailliert mit dem Sachverhalt auseinandersetzen können!"

 

Alf Mentzer (HR), bewährter Moderator der Open Books Eröffnung trat neben Bodo Kirchhoffs von brillanten Paradoxien gezeichneter Beredsamkeit fast ganz in den Hintergrund: "Die Liebe ist nichts Schönes, sondern sie sucht das Schöne und in dieser Suche ist sie grob und stur – ganz anders als sie immer besungen wird." Kirchhoff nahm für sich als vollendeter  und charismatischer Selbstdarsteller das Publikum ganz für sich ein. Während Krechels Arbeit von Zurückhaltung und Distanz zu ihrer Figuren geprägt ist, bestand Kirchhoff darauf: "Mich interessiert am Romanschreiben immer nur, etwas über mich selbst zu erfahren, das ich niemals wissen wollte." Sein Schreiben, so Kirchhoff, sei ein Versuch, durch sich selbst hindurch auf seine fiktiven Figuren zu stoßen. "Dabei bleiben Fleischfetzen kleben", meinte Kirchhoff, der sich gleichwohl gegen eine plumpe Gleichsetzung mit seiner Hauptfigur Renz verwehrt: "Man verteilt sich als Autor auf mehrere Personen. Ich habe mehr mit Vila und Bühl gemeinsam, am meisten mit der Frau." Kirchhoff zog das Gespräch ganz an sich, verabschiedete sich am Ende sogar selbst: "Ich bin mit meinem Sohn und seinen Freunden hier, Sie werden also verzeihen, dass ich mich gleich auf den Weg machen muss. Vorher signiere ich noch ein paar Bücher."

Dagegen wirkte das Gespräch zwischen Marie Sagenschneider und Jenny Erpenbeck ("Aller Tage Abend") beinahe schon bieder. Erpenbeck gelang es dennoch, Interesse für ihr neues Buch zu wecken, das von fünf Leben mit (tragischen) Wendepunkten handelt. Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Schicksale ist der Tod – im Laufe eines Jahrhunderts. Die Hauptfigur in ihrem literarischen Spiel bleibt, so der Clou, die gleiche.

Als großes Thema des Abends kann die Erschütterung der bürgerlichen Existenz gelten: Vom Schicksal des rachedürstenden Nachkriegsremigranten bei Ursula Krechel, der Bankenkrise bei Susanne Schmidt, über die zerstörerische Kraft der Liebe bei Bodo Kirchhoff bis hin zu 3.000 Kilometer währenden Selbstfindung eines Philosophieprofessors, "dessen bürgerliches Leben auseinanderfliegt" bei Stephan Thome (Fliehkräfte).

Bleibt zu hoffen, dass Open Books auch in diesem Jahr dazu beiträgt, wie Kulturdezernent Felix Semmelroth es ausdrückte, "dass die Zuhörer der Lesungen rund um den Römerberg mit anderen Ohren an die Verlagsstände herantreten und in die Buchhandlungen gehen, um im Idealfall gleich mehrere Bücher einzukaufen." Im Römer, Kunstverein,  Haus am Dom, dem Literaturhaus, der Evangelischen Stadtakademie und erstmals in der neuen Adresse des Börsenvereins – dem Haus des Buches in der Braubachstraße – werden sie Gelegenheit haben, die Raison d’être für das Lesen zu spüren, wie Semmelroth es ausdrückte.

Das Programm von Open Books, das an allen Veranstaltungsorten ausliegt, gibt es auch hier online.