Gastspiel

Die Tücke der Tafel

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Wie aus dem Flirt mit einem elektronischen Lesegerät die Sehnsucht nach dem Buch aus Papier wurde. Von Joseph von Westphalen.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Wie wahr. Aber auch das Haben. Hat das der kluge Marx nicht erwähnt? Wer ein Reihenhäusle hat, ist ein Reihenhäusler. Wer einen idiotischen Riesenrad-Jeep fährt, ist ziemlich sicher ein riesiger Idiot oder eine entsprechende Idiotin.

Aber auch das Nichtsein prägt: Wer nicht bei Facebook ist, darf getrost die 800 Millionen Mitglieder für Deppen halten. Innovationsskepsis gehört zu den wichtigsten natürlichen Abwehrkräften.

Ein Freund bekam einen Kindle zum Geburtstag. Ich bin ein guter Heuchler. Mein Abscheu vor dem elektronischen Lesegerät muss ausgesehen haben wie Neugier, wenn nicht Gier. Prompt wurde mir wenig später auch das neue Intellektuellenspielzeug geschenkt.

Erster Impuls: das flache Ding wie einen Diskus verächtlich in die Landschaft zu schleudern. Hätte aber nur Sinn, wenn einer die Aktion in Zeitlupe filmt und bei Youtube einstellt – auf dass täglich eine Million Klicker Zeuge meiner kulturkritischen Großtat werden.

Frauen und Bücher liebt man. Man nimmt Rücksicht. Man fasst sie zart an. Frauen fauchen, wenn sie das Gefühl haben, benutzt zu werden. Bücher (ohne Fadenheftung) ächzen und knacken gequält, wenn man sie grob aufschlägt. Ein elektronisches Lesegerät kann man schamlos nutzen, benutzen, ausnutzen, gegen die Intentionen des Herstellers gebrauchen. Es duldet den Missbrauch schweigend.

Ein Kindle ist relativ preiswert. Amazon erwartet, dass der Besitzer eines E-Book-Readers Texte kauft und Umsatz macht. Dabei bringt es mehr Erkenntnis und Interesse, den Konsumgehorsam zu verweigern: Unmengen von E-Books gibt es umsonst. Kostenlos kann ich palettenweise Klassiker auf mein schlichtes Täfelchen zaubern.

Anfangs habe ich wieder Weltliteratur in mich hineingefressen, wie seinerzeit als erweckter Gymnasiast. Hätte ich nicht gedacht, dass ich noch einmal Dostojewski lesen würde. Zum Frühstück. Statt Zeitung. Ein Rausch. "Weiße Nächte" – moderner als jeder ambitioniert rotzige Hauptstadt-Berlin-Roman. Die alten, gemeinfrei gewordenen Übersetzungen haben ihre Reize. Man muss sie sich schönlesen. Zum Kaffee nach dem Mittagessen Jane Austen runterladen und ihre Romane nach dem Wort "Schulden" und "Sparen" absuchen, die Erzählungen von Tschechow nach dem Wort "Wahrheit". Abends wahllos Brocken von Balzac und Stendhal schlucken. Macht eine Weile Spaß.

Der wahre Gewinn eines jeden E-Book-Readers, gleich welchen Fabrikats: Noch ehe der Akku ausgeht, das Ladekabel unauffindbar ist und endlich Schluss ist mit dem Hokuspokus, hat man in seinem Bildungsnachholhunger und seiner Gratisgier so viel Texte durcheinander in sich hineingeschlungen, dass man sich nach nichts mehr sehnt, als nach Büchern aus Papier, sorgfältig ediert und gedruckt, mit einem Satzspiegel, der nicht verrutschen kann, in denen man sich zurechtfindet.

Es ist anfangs komisch, aber sehr bald entnervend, wenn unkonzentrierte Berührungen des Bildschirms oder das Aushändigen des Geräts an jemand anderen dazu führen, dass statt der mühsam herbeigesuchten Stelle von Rousseau eine Romanseite von Fontane zu sehen ist.

Noch ärgerlicher: wenn man angesäuselt oder übermüdet satt Zolas "Nana" umsonst versehentlich für 12,80 Euro die platte Seminararbeit eines geschäftstüchtigen Studenten heruntergeladen hat. Spätestens dann wird man reumütig in seine vertraute Buchhandlung pilgern.