In den Verliesen der Vergangenheit

Historische Hintergründe spannend zu vermitteln, setzt zweierlei voraus: handwerkliches Geschick bei der Anlage des Plots und einen souveränen Umgang mit Quellen und Augenzeugenberichten. Dabei gibt es keine zeitlichen Grenzen, kein Jahrhundert bleibt ausgeblendet.

Man schreibt das Jahr 1534, in Köln findet ein außergewöhnlicher Gerichtsfall statt: Ein englischer Geschäftsmann verklagt eine Tuchhändlerwitwe, damit sie angebliche Schulden ihres Mannes begleicht,  der wiederum auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen ist. Im Laufe des Prozesses treten verschiedene Zeugen auf und bald werden Verflechtungen offengelegt, die bis ins englische Königshaus reichen. Zwölf Autoren, unter ihnen Tanja Kinkel, Peter Prange, Titus Müller und Lena Falkenhagen übernehmen jeweils eine Rolle als Zeugen, Beschuldigte, Täter und schreiben die Geschichte aus ihrer Perspektive fort. "Die vierte Zeugin" (Aufbau) ist daher inhaltlich wie formal ein spannender Historienkrimi, der auf einem authentischen Gerichtsfall fußt.

Ins Utopische hinein zieht den Leser Mathias Gatza mit seinem Roman "Der Augentäuscher" (Graf). »Den Torso des ersten Fotos der Menschheitsgeschichte besitze ich«, sagt zu Anfang des Romans der Erzähler. Der ist ein heruntergekommener Kulturwissenschaftler, der dem Maler Silvius Schwarz auf der Spur ist. Schwarz entwickelte angeblich schon im Barock die Technik der ­Fotografie. Eine wissenschaftliche Sensation! Doch leider werden im Dresden des Jahres 1673 mehrere Sänger des Hofes ermordet, Schwarz gerät unter Mordverdacht und wird hingerichtet. Gatza entwickelt in seinem Roman ein äußerst lebendiges Genrebild der Zeit, gewürzt mit Elementen der Wissenschaftssatire, und das Ganze ist eben auch ein spannender Thriller!

Wien, den 5. Dezember 1791: Wolfgang Amadeus Mozart ist tot. Der große Komponist hat einige Wochen zuvor den Verdacht geäußert, vergiftet worden zu sein. In dem Roman "Mozarts letzte Arie" (C. H. Beck) geht Mozarts Schwester "Nannerl" der Sache nach und gerät immer tie­fer in den Strudel von Intrigen in Kreisen des Adels, der Künstler und der Freimaurer – bis auch ihr Leben bedroht ist. Ein schöner, musikgeschichtlicher Historienkrimi ist dem walisischen Autor Matt Beynon Rees damit gelungen.

In Bismarcks Berlin als Schauplatz von Sex und Gewalt führt der Liechtensteiner Autor Armin Öhri in seinem Roman "Die dunkle Muse" (Gmeiner), der im Jahr 1865 spielt. Der junge Student Julius Bentheim verdient sich zusätzlich Geld, indem er bei der Polizei als Tatortzeichner arbeitet und dabei die "hohe Kunst des Mordens" kennenlernt. Als Bent­heims Philosophieprofessor wegen eines bestialischen Mordes an einer Prostituierten angeklagt wird, be­ginnt er eigene Ermittlungen zu führen.

Kent, im November 2007: Jamies Vater wird vor seinen Augen ermordet, wenig später verschwindet auch seine Mutter. Dann erfährt Jamie die Wahrheit: Sein Vater gehörte der geheimnisvollen britischen Organisation "Department 19" an. Kein Geringerer als Dr. Abraham Van Helsing, der Gegenspieler Graf Draculas, hatte sie im Jahr 1891 gegründet. Und bis heute ist das Department das Zentrum für die Abwehr übernatürlicher Bedrohung. Mit "Department 19. Die Mission" (Bastei Lübbe) ist dem englischen Autor Will Hill ein Thriller gelungen, der zwischen Jetztzeit und frühem 20. Jahrhundert pendelt, und der das Vampirgenre als Dekor für kriminelle Handlungen ausgestaltet.

Es gibt allerdings auch historische Krimis, die weit ins 20. Jahrhundert hineinreichen. – Spanien im Jahr 1945. General Franco herrscht als Diktator. Im baskischen Küstenort Getxo lebt der junge Buchhändler Sancho Bordaberri. Seine Leidenschaft ist nicht die Politik, sondern es sind die großen amerikanischen Krimiautoren wie Ambler, Chandler oder Hammett. Genau so wie sie möchte er schreiben, doch seine eigenen Manuskripte wurden bislang von Verlagen abgelehnt. Da kommt er auf die Idee, ein ungeklärtes Verbrechen – den Mord an einer zwielichtigen Figur im Dorf – nochmals aufzurollen.

Wie ein detektivischer Don Quijote tappt Borda­berri naiv in Fallen, merkt nicht, wie sein Leben zusehends in Gefahr gerät. Denn der ungeklärte Mord hat auch etwas mit dem Machtapparat Francos zu tun. Sehr geschickt verwebt der baskische Autor Ramiro Pinilla in seinem Krimi "Nur ein Toter mehr" (dtv, 285 Seiten, 14,90 Euro) zwei Ebenen: die des fiktiven Krimigeschehens mit der des Alltagslebens unter General Franco. Man sieht: Die historischen Krimis halten vieles für die Leser bereit, die Spannung suchen, sich aber zugleich auch geschichtlich informieren wollen.

Noch mehr historische Krimis

➤ Robert Brack: Unter dem Schatten des Todes. Nautilus, 2012, 224 S., 13,90 Euro.
Die kommunistische Reporterin Klara Schindler soll die Hintergründe des Reichstagsbrands 1933 klären. Dabei gerät sie selbst in den Sog von Nazi-Terror und Intrigen.
➤ Jürgen Heimnach: Unter Trümmern. Pendragon, August 2012, 448 S., 13,95 Euro.
Mainz 1946: Kommissar Paul Koch bekommt es mit seinem ersten Nachkriegsfall zu tun: Bei einem Überfall auf ein Warendepot wird ein Wachposten erschossen.
➤ Cay Rademacher: Der Schieber. DuMont, August 2012, 350 S., 16,99 Euro.
Hamburg im Winter 1947: In den Ruinen einer Werft wird die Leiche eines Jungen gefunden. Als weitere Morde an Jugendlichen stattfinden, gerät Oberinspektor Stave unter Druck.
➤ Tom Wolf: Das spanische Medaillon. Bebra, September 2012, 272 S., 9,95 Euro.
1813 rüstet Preußen auf, um sich gegen Napoleon zu erheben. Da wird eine fürchterliche Mordserie begangen. Die Adelige Gerardine de Lalande ermittelt auf eigene Faust.
➤ Gabriella Wollenhaupt, Friedemann Grenz: Blutiger Sommer. Grafit, Oktober 2012, 352 S., 11 Euro.
Berlin 1846: Im Scheunenviertel werden Frauen Opfer eines brutalen Mordes. Konservative Kreise halten einen jüdischen Metzger für den Täter. Justus von Kleist, der leitende Ermittler, ist da anderer Meinung – und wird deshalb vom Dienst suspendiert.