Novitäten Belletristik

Eigensinnig und aufregend

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Die Verlage schütten im Herbst ihr belletristisches Füllhorn aus: Ein Streifzug durch die bunten Themenwelten der Novitäten.

"Immer wieder vergesse ich, was für Dinge es noch zu lesen gibt", schreibt Peter Handke 1981 an Hermann Lenz. "Amina fürchtete schon vor einem Jahr, es könnte, für sie, nichts mehr zu lesen geben, und sagte, das wäre 'furchtbar, ich glaube, da würde ich sterben'." Handkes Tochter Amina war damals elf. Der Glaube, einmal alles Lesbare aufgelesen zu haben – er dürfte bald der Gewissheit gewichen sein, nie auch nur annähernd alle erschienenen Bücher wahrnehmen zu können. Wann nur kann man alles Lesenswerte lesen, wenn – jede Saison aufs Neue – mehrere Tausend Titel die Bücher der Vorsaison von den Präsentiertischen der Buchhandlungen verdrängen und noch genug Klassiker in den eigenen Buchregalen warten?

Umso wichtiger, zumindest eine kleine Vorauswahl zu treffen, was in diesem Herbst auf jeden Fall empfohlen werden darf oder auf dem Nachttischchen landen sollte. Womit wir beim eingangs erwähnten Peter Handke wären, der am 6. Dezember 70 Jahre alt wird. Der Geburtstag wird nicht nur mit einem neuen poetischen Essay – dem "Versuch über den Stillen Ort" – gefeiert, sondern auch mit dem lange erwarteten, explosiven Briefwechsel mit seinem Verleger Siegfried Unseld. Wenn man sich die belletristischen Neuerscheinungen des Herbstes ansieht, kann man sich freuen: auf Romane bekannter Autoren wie Martin Walser, auf solche von Schriftstellern, die in den vergangenen Jahren bereits gezeigt haben, dass sie zu den ganz Großen gehören werden wie Clemens J. Setz. Aber auch auf Debütanten wie Vea Kaiser oder Teresa Präauer darf man gespannt sein.

Verästelungen des Lebens

Wollte man die Weltliteratur auf zwei bestimmende Themen herunterbrechen, wären es wohl Liebe und Tod. Auf wie verschiedene und vielschichtige Weisen man sich aber immer wieder mit der Liebe auseinandersetzen kann, erweist sich schon beim flüchtigen Blick auf die Herbstprogramme: Wie sollte es auch anders sein, wenn sich so eigensinnige Autoren wie Bodo Kirchhoff oder Anne Weber, Norbert Scheuer oder A.L. Kennedy dem unbeschreiblichsten und zugleich faszinierendsten aller Gefühle annehmen. Kuriosen und tragischen, gewundenen und unverwundenen, verworrenen und verwirrenden Lebenswegen und Familiengeschichten kann man in neuen Büchern etwa von Sabrina Janesch oder Christoph Peters folgen.

Und wie die Historie noch die kleinsten Verästelungen eines Lebens mitgestaltet, das Politische sich ins Private hineinschmuggelt, gesellschaftliche Schieflagen auch das Individuum aus dem Gleichgewicht bringen können, lässt sich in den Geschichten von Daniel Alarcón, Sadie Jones oder Helmut Krausser nachlesen.

Und natürlich zieht es die Literaten in die Ferne. Mit ihren Figuren können fremde Länder und nahe Mikrokosmen erkundet, die Karibik und New York entdeckt, die Wüste oder Geisterreiche besucht werden – Christoph Ransmayr und Stephan Thome etwa laden dazu ein. Wo immer die Reisen auch hinführen mögen: Als Leser hat man stets den besten Platz, die weiteste Aussicht, den schönsten Blick auf die Welt.

Ulrich Rüdenauer

Buchauswahl

Im Inneren des Landes – Geschichte und Geschichten

➤ Daniel Alarcón: Stadt der Clowns. ­­Erzählungen. Wagenbach, 192 S., 18,90 Euro
Eine Gesellschaft im Umbruch: Der Autor entwirft die Szenerie einer Stadt zwischen Verzweiflung und Hoffnung
➤ Dirk Brauns: Im Inneren des Landes. Galiani Berlin, 160 S., 16,99 Euro
Noch 24 Stunden, bis der Schuss fällt: Die Geschichte zweier Männer, die sich aus DDR-Zeiten kennen und nun abrechnen
➤ Ralph Dohrmann: Kronhardt. Ullstein, 920 S., 24,99 Euro
Ein Entwicklungsroman: Fabrikantensohn Willem Kronhardt entwickelt eine kontemplative Haltung zur Wirklichkeit, findet eine Gegenwelt und Glück im Rückzug, in der Schönheit und Zweckfreiheit der Natur, in der Reflexion
➤ Jan Guillou: Die Brückenbauer. Heyne, 784 S., 22,99 Euro
Aus drei armen Halbwaisen werden um die Jahrhundertwende Ingenieure, Männer von Welt mit allen Chancen – wenn da nicht die Liebe wäre
➤ Sadie Jones: Der ungeladene Gast.
DVA, 320 S., 19,99 Euro
1912: Jones zeigt ironisch vergnüglich die Welt des morbiden englischen Landadels mit ihren sehr eigenen Regeln
➤ Vea Kaiser: Blasmusik-Pop.Kiepenheuer & Witsch, 496 S., 19,99 Euro
Das Debüt fängt die Welt eines abge­schiedenen Bergdorfes ein und die Geschichte einer Familie, die über drei Generationen auf kuriose Weise der Wissenschaft verfallen ist
➤ Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen. DuMont, 600 S., 22,99 Euro
Die Zwillinge Max und Karl sind Kontrahenten und bleiben doch eng verbunden. Als es ihnen in den 30er Jahren zu eng wird, fliehen sie mit der Prostituierten Ellie nach Frankreich
➤ Tanja Langer: Der Tag ist hell, ich schreibe dir. Langen Müller, 280 S.,
19,99 Euro
Eine unkonventionelle Liebesfreundschaft vor dem Hintergrund deutscher Zeitgeschichte
➤ Maaza Mengiste: Unter den Augen des Löwen. Wunderhorn, 240 S., 24,80 Euro
Am Beispiel einer Familie erzählt der Roman die blutigen Umbrüche im Äthiopien der 1970er Jahre

Unterwegs – Erzählungen vom Reisen

➤ Zoran Feric: Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr. Folio, 480 S., 24,90 Euro
Die ehemalige Klasse eines Zagreber Gym­nasiums wiederholt nach Jahren ihre Abiturfahrt entlang der dalmati­nischen Küste – alte Geschichten werden aufgewärmt und neue entstehen
➤ Andrea Grill: Liebesmaschine N.Y.C. Otto Müller Verlag, 136 S., 18 Euro
Wie filmische Short Cuts reihen sich die Episoden der Porträtierten in der Metro­­pole New York zu einem Ganzen
➤ Suzanne Joinson: Kashgar. Bloomsbury Berlin, 464 S., 19,99 Euro
Die Geschichte zweier junger Engländer­innen, die sich 1923 zur alten Seiden­-
straße aufmachen
➤ Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes. S. Fischer, 400 S., 24,99 Euro
Wie Landkarten fügen sich Episode um Episode zu einem Weltbuch, das in Bildern Leben und Sterben, Glück und Schicksal der Menschen kartografiert
➤ Andreas Stichmann: Das große Leuchten. Rowohlt, 256 S., 19,95 Euro
Ein starkes Buch – über die Suche nach einem Mädchen, eine wilde Reise, Liebe, Einhörner und Jäger, opiumrauchende Kunstfilmerinnen und alte Orangenfarmer
➤ Stephan Thome: Fliehkräfte. Suhrkamp, 474 S., 22,95 Euro
Eine alles entscheidende Reise führt den Helden nach Lissabon und an die Abgründe seines gelebten Lebens 

Liebe und Herzklopfen
Leidenschaftliche Geschichten 

➤ Thommie Bayer: Vier Arten, die Liebe zu vergessen. Piper, 288 S., 19,99 Euro
Bayer erzählt von den großen Themen des Lebens: Respekt, Freundschaft, Liebe und der Kraft, unsere Enttäuschungen zu überwinden
➤ Martin Gülich: Was uns nicht gehört. Nagel & Kimche, 176 S., 17,90 Euro
Eine tragikomische Geschichte über einen Mann, der alles zu verlieren scheint und dadurch eine nie gekannte Freiheit gewinnt – und eine neue Liebe
➤ Iris Hanika: Tanzen auf Beton. Droschl, 168 S., 19 Euro
Dass Liebesdinge in der Regel scheitern, ist Hanikas Heldin durchaus geläufig – aber wie ungeheuerlich das Liebesunglück zuweilen werden kann, erscheint ihr dann doch verwunderlich
➤ A.L. Kennedy: Das blaue Buch. Hanser, 368 S., 21,90 Euro
Die große Liebe eines Gaunerpärchens – und dann will sie mit einem anderen Mann ein anständiges Leben beginnen 
➤ Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen. FVA, 670 S., 28 Euro
Das Panorama einer Ehe als Lebens­­projekt in einer Zeit, die den Moment verherrlicht. Und wenn es einen Höhepunkt in der Ehe gibt, erkennt Vila am Ende, dann besteht er in deren Dauer
➤ Nicol Ljubic: Als wäre es Liebe. Hoffmann und Campe, 288 S., 19,99 Euro
Ljubic lotet eine Liebesillusion aus, die dem Hass geschuldet ist und die Liebende isoliert
➤ Norbert Scheuer: Peehs Liebe. C. H. Beck, 240 S., 17,95 Euro
Eine Liebesgeschichte und ein Leben als große anrührende Fantasie
➤ Silke Scheuermann: Die Häuser der anderen. Schöffling & Co., 264 S., 19,95 Euro
Scheuermann schreibt von zerbrechlichen Wünschen, Ängsten, Hoffnungen und davon, was geschieht, wenn Menschen ihr Leben nach anderen ausrichten und ihre vermeintliche Überlegenheit ins Wanken gerät oder wenn sie vom Glück überrascht werden
➤ Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Rowohlt, 288 S., 19,95 Euro
Ein an die Existenz rührender Roman über eine unmögliche Liebe
➤ Anne Weber: Tal der Herrlichkeiten. S. Fischer, 256 S., 18,99 Euro
Sperber begegnet auf einem Kai in der Bretagne seiner großen Liebe – zwei Tage und Nächte verbringen sie miteinander, bevor sie auseinandergerissen werden. Und dann beginnt ein wilder nächtlicher Traum
➤ Tom M. Wolf: Sound. Berlin Verlag, 450 S., 22,99 Euro
Eine Liebesgeschichte in Form einer musi­kalischen Partitur: Dialoge, Gedanken, Hintergrundgeräusche, Herzklopfen unterlegen die Erzählung mit eigenem Soundtrack

Vielen Dank für das Leben – Ganz eigene Geschichten

➤ Véronique Bizot: Eine Zukunft. Steidl, 120 S., 16 Euro
Ein kleines Buch zum Staunen darüber, wie wenig es braucht, damit alles anders kommt und zu welch radikalen Entscheidungen der Mensch in der Lage ist
➤ Dietmar Dath: Kleine Polizei im Schnee. Verbrecher Verlag, 280 S., 24 Euro
In seinen Erzählungen spielt Dath mit Fiktion und Wirklichkeit und stellt damit unsere Vorstellungswelt infrage
➤ Sabrina Janesch: Ambra. Aufbau, 368 S., 22,99 Euro
Ein Roman über seelische Verletzungen einer Familie, die mit der schmerzvollen Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt korrespondieren
➤ Peter Henisch: Großes Finale für Novak. Residenz, 240 S., 21,90 Euro
Im Krankenhaus leiht eine Schwester Novak einen Walkman: Der Held entdeckt seine Liebe zur Oper und zu großen Gefühlen – und muss feststellen, dass im großen Finale seines Lebens alles sehr kompliziert und dramatisch wird
➤ Édouard Levé: Selbstmord. Matthes & Seitz, 128 S., 17,90 Euro
Ein Vermächtnis, die Ansprache an ein Gegenüber, das Selbstmord verübt hat, die Rekonstruktion einer scheiternden Biografie
➤ Antony McCarten: Ganz normale Helden. Diogenes, 496 S., 22,90 Euro
Ein Roman darüber, dass man manchmal in eine virtuelle Welt abtauchen muss, um mit der realen Welt klarzukommen
➤ Carl Nixon: Rocking Horse Road. Weidle, 220 S., 19,90 Euro
Das Debüt des Neuseeländers vereint ein traumatisches Ende der Kindheit und traumatische Erfahrungen eines Landes
➤ Christoph Peters: Wir in Kahlenbeck. Luchterhand, 400 S., 21,99 Euro
In seinem Pubertäts- und Internatsroman begibt sich Peters mit seinem jugendlichen Helden auf Liebes- und Sinnsuche
➤ Teresa Präauer: Für den Herrscher aus Übersee. Wallstein, 140 S., 16,90 Euro
Ein Debütroman über das Fliegen und die Vögel, einen Großvater und eine geheimnisvolle Japanerin, Kinderträume und Lebensklugheit
➤ Clemens J. Setz: Indigo. Suhrkamp, 420 S., 22,95 Euro
Die Helianau ist eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden: dem Indigo Syndrom. Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz wird dort auf seltsame Vorgänge aufmerksam
➤ Arezu Weitholz: Wenn die Nacht am stillsten ist. Kunstmann, 224 S., 17,95 Euro
Wie Scheherazade sitzt die Erzählerin am Bett ihres Geliebten, der vielleicht gerade versucht hat, sich das Leben zu nehmen – und blickt zurück auf ihr Leben
➤ Joseph Zoderer: Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Haymon, 144 S., 17,90 Euro
Sensible Porträts von Männern, die eine Bilanz über ihr Leben ziehen