Kommentar

Lesen in der Server-freien Zone

6. Juli 2015
von Börsenblatt
Händler wie Amazon, Barnes & Noble und Kobo analysieren das Leseverhalten ihrer E-Reader-Kundschaft. Mithilfe gesammelter Nutzerdaten sollen Kaufwünsche oder neue Erzählformate generiert werden. Was das für den Datenschutz und die literarische Produktion bedeutet, kommentiert Michael Roesler-Graichen.

Mit einem guten Buch und seinen Gedanken allein zu sein, in einem Privatissimum mit sich und dem Romanpersonal, gehört zu den Vorstellungen, die Marktforscher in den Wahnsinn treiben könnten. Die "Black Box" Leser zu knacken, war daher für Händler und Verlage immer schon ein Wunschtraum, der nun – mit der Massenverbreitung von Lesegeräten – in Erfüllung zu gehen scheint. E-Book-Händler nutzen die von ihnen verkauften, mit den eigenen Servern synchronisierten E-Reader, um so viele nützliche Daten wie möglich zu sammeln: Wie schnell wird ein Buch im Schnitt gelesen, an welcher Stelle eines Romans steigen Leser aus, nach welchem Begriff wird ein E-Book am häufigsten durchsucht? Von den Nutzerdaten versprechen sich Händler und Verlage vor allem dies: den Kunden bei der Lektüre zu halten und in ihm den Wunsch zu wecken, auch die Fortsetzungsromane herunterzuladen.

Doch was ist mit dem Datenschutz, mit der "informationellen Selbstbestimmung", die hierzulande Bürgerrechtler und Politiker auf die Barrikaden steigen lässt und zu rhetorischen Höchstleistungen anspornt wie bei der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung? Es regt sich kaum jemand auf, von einigen "Privacy"-Aktivisten abgesehen. Lesen im digitalen Zeitalter ist ohnehin sozial, kollaborativ, wird gesagt. Warum also nicht das Leser-Tracking nutzen, um Autoren zu besseren, kürzeren Romanen zu verhelfen oder zu Storys, deren Plot und Figuren die Leser selbst modeln können?

Doch, wendet etwa Jonathan Galassi, Verleger von Farrar, Straus & Giroux, ein, datengetriebene Buchproduktion könne das schöpferische Risiko ausschalten, dem große Literatur entspringt. Ein Buch müsse exzentrisch sein und die Länge haben, die es brauche. Gute Literatur folgt also einer inneren Notwendigkeit, die nicht einmal Leser voraussetzt. Sie ereignet sich in einer Server-freien Zone und hat – ästhetisch – die Sprengkraft von Antimaterie, die E-Reader zum Bersten bringen müsste.