Im Interview: Friedenspreisträger Liao Yiwu

"Es gibt keine Hoffnung für China"

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Der Schriftsteller Liao Yiwu erhält den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ein Gespräch über die alltägliche Brutalität in China, die Überzeugungskraft des Geldes, Überleben im Gefängnis und das bittere Glück des Exils.

Sie leben im deutschen Exil, in einem Land, dessen Sprache Sie nicht beherrschen. Wie geht es Ihnen hier, in Berlin?

Liao Yiwu: Ich denke nicht viel über das Exil nach. Dafür lässt mir das Leben hier, meine Arbeit auch keine Zeit. Über das Internet bin ich außerdem in Kontakt mit meinen Freunden in China. Ich habe die Gewohnheit entwickelt, jeden Tag von meiner Wohnung in der Uhlandstraße zum Wilmersdorfer Volkspark zu spazieren, in der Nähe ist ein Friedhof. Ich empfinde eine große Ruhe dort. Zum Schluss erwartet jeden das Gleiche. Das Exil ist mein Schicksal. Dass ich einer Sprache nicht mächtig bin, beeinträchtigt nicht das Gefühl von Freiheit. Ich war in China häufiger in Regionen unterwegs, deren Sprache mir fremd war, gerade dort habe ich mich sehr frei gefühlt, fern von Überwachung.

In China wurden Sie verfolgt, ins Gefängnis geworfen, die Veröffentlichung Ihrer Bücher unterdrückt. In Deutschland erhalten Sie renommierte Auszeichnungen: im vergangenen Jahr den Geschwister-Scholl-Preis und – wie jetzt bekannt wurde – am 14. Oktober 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Welche Empfindung weckt das, ist es eine mit Trauer vermischte Freude?

Liao Yiwu: Zunächst war ich für eine kurze Zeit fassungslos. Und dann wurde mir klar, dass ich ein Mensch bin, der unverschämtes Glück hat. Ich habe nicht mit Preisen gerechnet. Ich wollte lediglich vom Leben einfacher chinesischer Menschen erzählen.

Als der mit Ihnen befreundete chinesische Regimekritiker Liu Xiaobo 2010 den Friedensnobelpreis erhielt, blieb sein Platz in Stockholm leer. Er war zuvor zu elf Jahren Haft verurteilt und eingesperrt worden. Sie können den Friedenspreis in der Paulskirche in Frankfurt selbst entgegennehmen. Gefängnis oder Exil – eine andere Wahl scheint es für Kritiker des Regimes in China nicht zu geben.

Liao Yiwu: In China hat man mir damit gedroht, dass ich für lange Zeit verschwinden würde, sollte mein Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" erscheinen. So habe ich beschlossen, ins Ausland zu gehen. Ich dachte nicht, dass sie es wagen würden, Liu Xiaobo erneut einzusperren. Beide wünschen wir uns Freiheit in China. Aber darüber hinaus sind wir sehr verschieden. Liu Xiaobo ist ein Intellektueller, für ihn sind Menschen wie Havel und Mandela Vorbilder. Er betrachtet sich als Anführer einer intellektuellen Elite. Ich selbst sehe mich als einen unpolitischen Schriftsteller, als ein Aufnahmegerät der Zeit. Ich halte fest, was andere Menschen mir erzählen. Die einfachen Leute sind mir näher, ich verstehe sie viel besser als die Elite. Ich sehe mich nicht auf einer Anhöhe, als kleine Ameise fühle ich mich am wohlsten. Nachdem ich vom Friedenspreis erfuhr, habe ich recherchiert und bin auf eine lange Liste von Preisträgern gestoßen, auf berühmte Intellektuelle – Václav Havel und Susan Sontag zum Beispiel. Ich dachte: Vielleicht hat sich der Börsenverein bei mir geirrt.

Fühlen Sie sich fernab von Ihrem Land und den Menschen dort abgeschnitten von den Quellen Ihrer schriftstellerischen Arbeit?

Liao Yiwu: Ich habe viele gute und viele schlechte Dinge in China erlebt und aufgesogen. Eines Tages sagte mir die Polizei, dass ich ins Gefängnis muss. Als ich mich später auf den Weg in den Westen machte, befand sich in meinem Reisegepäck auch ausreichend Nahrung für weitere Bücher.

In Ihrem Gefängnisbuch "Für ein Lied und hundert Lieder" berichten Sie von Folter und einem grausamen System von Bestrafungsritualen unter den Gefangenen selbst. Überleben kann nur, wer sich anpasst und die Regeln akzeptiert. Wie hat die Gefängniszeit Sie verändert?

Liao Yiwu: Vor dem Gefängnis war ich ein romantischer Dichter. Als ich mich dann in einer Zelle wiederfand, kam das einem Schock gleich. Es gab dort Menschen, wie ich sie nicht kannte, sie lebten zusammengepfercht auf wenig Raum, umgeben von Dreck und Gestank. Die haben mich am Anfang nur ausgelacht, weil ich nichts verstehen würde. Dabei hatte ich für meine Gedichte doch Preise bekommen. Mir wurde klar, dass ich gar nichts von den unteren Gesellschaftsschichten wusste. Ich habe also angefangen zu lernen, überhaupt lernen zu wollen, sonst hätte ich nicht überlebt. Als Neuling musste man zum Beispiel in der Hocke mit beiden Händen auf dem Kopf zum Klo hüpfen, ebenso zurück. Auf die Art wurde einem beigebracht, dass man ganz klein und erbärmlich ist. Man wurde zum Tier gemacht und nur so, als Tier, konnte man überleben. Es gibt viele, die entlassen werden und draußen nicht mehr leben können, die kehren schnell wieder zurück. Die chinesische KP hat einmal gesagt, das Gefängnis sei dazu da, die Knochen eines Menschen komplett durcheinanderzuschütteln.

Ihr Manuskript wurde zweimal konfisziert. Sie mussten immer wieder neu beginnen. Hat das Schreiben geholfen, um mit dem Erlebten zurande zu kommen?

Liao Yiwu: Ich hatte im Gefängnis meine Würde verloren. Nur durch das Schreiben konnte ich sie wiederfinden. Das war wie eine Entgiftung für mich. Dann haben sie mir mein Manuskript weggenommen. Mir blieb nichts weiter übrig, als immer wieder neu anzufangen. Ich war während dieser Zeit sehr verzweifelt und instabil, wurde oft zornig. Damals habe ich als Straßenmusiker in einer Kneipe gesungen. Einmal bekam ich mit einem anderen Streit. Da habe ich eine Flasche genommen und sie auf seinem Kopf zerschlagen, alles war voller Blut. Ich wurde erst ruhiger, als ich mit der dritten Fassung fertig war und sie in Sicherheit wusste. Manchmal dachte ich, die erste Version sei die beste, aber dann wurde mir deutlich, dass mir später immer neue Details eingefallen sind.

Sie schildern auch, wie Sie sich im Gefängnis umbringen wollten. Trotzdem bleibt für mich der Eindruck von einem Menschen vorherrschend, der sich nicht unterkriegen lässt, der immer wieder aufbegehrt. Als schwach erscheinen Sie mir nicht, im Gegenteil.

Liao Yiwu: Ich habe das Leben im Gefängnis als mein Schicksal angesehen und versucht, mich unter den Bedingungen dort nicht völlig aufzugeben. Trotzdem habe ich oft große Hilflosigkeit und Traurigkeit empfunden. Die klassische Literatur und die Geschichte waren nützlich, weil mir durch sie verdeutlicht wurde, dass ich mich im Vergleich zu einigen meiner Landsleute, Konfuzius oder dem antiken Historiker Sima Qian, glücklich schätzen konnte. Der eine war ein Exilant, der ständig vertrieben wurde, den anderen ließ der Kaiser kastrieren.

Wie haben Sie nach Ihrer Entlassung gelebt, fühlten Sie sich bedroht?

Liao Yiwu: Ich wurde ständig überwacht. Aber das sind auch Menschen, und sie waren nicht schlecht zu mir. Einer sagte: "Schau mal, du hast doch gar keine politischen Meinungen. Letztlich geht es doch bloß darum, zu leben. Du könntest zum Beispiel Hosen verkaufen." Ich widersprach: "Warum soll ich Hosen verkaufen?" Er: "Du verdienst Geld damit, wirst vielleicht sogar reich. Und wenn du mal Ärger hast, helfen wir dir."

In China gelangen immer mehr Menschen zu Wohlstand. Erkauft sich das Regime so breitere Zustimmung? Und sind Sie angesichts dessen bloß ein einsamer Rufer in der Wüste?

Liao Yiwu: Ich betrachte die Entwicklung in China nicht als einen Aufstieg, im Gegenteil. Es gibt sehr viele schwache Menschen dort, für die nichts besser geworden ist. Das Land wird verseucht. Die Menschen kennen überhaupt keine moralischen Grenzen. China ist die größte Müllkippe der Welt. Die Umweltverschmutzung lässt sich in 100 Jahren nicht beheben.

Die Gespräche, die in dem Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" versammelt sind, zeigen, wie sich Menschen am Rande der Gesellschaft behaupten. Zugleich machen sie eine furchtbare Erziehung zu Brutalität und Unmenschlichkeit kenntlich: Da sind Eltern, die zur Zeit der gigantischen Hungerkatastrophe Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre ihre eigenen Kinder aufessen. Wie erging es Ihnen bei solchen Treffen?

Liao Yiwu: Ich bin in einem Gefängnis trainiert worden. Dort habe ich einen Mörder kennengelernt. Der Mann betrachtete mich als seinen letzten Zuhörer, bevor er hingerichtet wurde. Er erzählte mir immer wieder davon, wie er seine Frau ermordet, zerstückelt und gegessen hat. Ich höre einfach nur zu.

Ihre Bücher und die darin festgehaltenen Erfahrungen und Erlebnisse zeichnen das Bild eines Landes, in dem ein einzelnes Leben nicht viel zählt und ein selbstbestimmtes Dasein illusionär scheint. Lässt Sie das manchmal resignieren?

Liao Yiwu: Die Brutalität gehört zu den Folgen dieser Diktatur. In meinen Augen gibt es keinerlei Hoffnung für dieses Land. Wenn die Wirtschaft weiter wächst, führt das zu einer noch gewaltigeren Verschmutzung der Natur, aber auch der menschlichen Seele. Wenn Wirtschaftsleute aus dem Westen zu Besuch sind, dann wird nicht über Moral geredet, sondern nur über Geld. Von China geht eine große Gefahr für die westliche Kultur aus. Das Land exportiert, wie sich auf möglichst unmoralische und seelenarme Art regieren und die Wirtschaft lenken lässt. Ich war im vergangenen Jahr in den USA, um eine Rede an der Harvard University zu halten. Traditionell werden solche Auftritte aufgenommen und auf die Homepage gestellt. Bei dieser Gelegenheit habe ich mein Gedicht "Massaker" laut vorgetragen und davon gesprochen, dass dieses Attentat von 1989 einen Wendepunkt für die Chinesen markiert: Aus glühenden Patrioten wurden Menschen, die nicht mehr ihr Land, sondern nur noch das Geld lieben. Nachdem ich geendet hatte, wurde eine Sitzung anberaumt, in der die Harvard-Professoren darüber diskutiert haben, ob meine Rede überhaupt auf die Website gestellt werden soll. Man muss dazu wissen, Kinder von chinesischen KP-Kadern sind Absolventen der Universität, die zahlen viel Geld. Die Professoren haben entschieden, das Video von meinem Auftritt nicht zu zeigen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass mein Übersetzer auch zu sehen sei, man ihn aber nicht in der Öffentlichkeit zeigen wolle. Diese verlogene Art der Argumentation kannte ich bis dahin nur aus China.

Haben Sie den Wunsch, eines Tages nach China zurückzukehren?

Liao Yiwu: Ich habe kein Gefühl zu diesem Land. Meine Heimat ist nicht China, sie befindet sich in der Sichuan-Provinz und dort wird sie immer bleiben. Meine Zuneigung gehört meiner Familie, meinen Freunden. Meine kulturelle Heimat ist die Literatur: Laudse, Konfuzius. Es mag eigenartig klingen, aber gerade hier in Deutschland ist ein Heimatgefühl viel spürbarer für mich.

Interview: Holger Heimann

Übersetzung: Yeemei Guo

 

Liao Yiwu wird 1958 in der chinesischen Provinz Sichuan geboren und wächst während der Zeit der großen Hungersnot Anfang der 60er Jahre auf. Unter dem Eindruck der zunehmenden Unruhen im Land verfasste er 1989 das Gedicht „Massaker" und nimmt darin einen Tag vor dem gewaltsamen Vorgehen der chinesischen Armee gegen die Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking das Geschehen vom 4. Juni 1989 prophetisch vorweg. Während das Gedicht rasch Verbreitung findet, wird Liao Yiwu wegen "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda" zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und inhaftiert. Nach seiner Entlassung 1994 muss er feststellen, dass ihm viele Freunde und auch seine Frau den Rücken gekehrt haben. Liao Yiwu beginnt seine schockierenden Erfahrungen mit dem Haftregime aufzuschreiben, zweimal wird das Manuskript konfisziert, erst 2009 kann er eine dritte Fassung zu Ende bringen, 2011 erscheint "Für ein Lied und hundert Lieder" auf Deutsch bei S. Fischer. Bereits 2009 kommt dort sein Buch "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten" heraus. Es versammelt Interviews des Autors mit Mitgefangenen und Menschen, die er als Straßenmusiker und Gelegenheitsarbeiter kennengelernt hat. In einer bereinigten Version erscheint der Band 2001 in China, heute ist der Titel dort verboten. Im Juli 2011 gelingt es Liao Yiwu, China zu verlassen; er lebt derzeit mit einem Stipendium des DAAD in Berlin. Im November vergangenen Jahres erhält er den Geschwister-Scholl-Preis. Im kommenden Herbst erscheint sein neues Buch "Die Kugel und das Opium". Er hat dafür Augenzeugen und Angehörige von Opfern des Aufstands vom 4. Juni 1989 getroffen. Am 14. Oktober 2012 wird Liao Yiwu in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.