Technikgetrieben

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Unsere Familie hat jetzt ebookmäßig voll aufgerüstet, ProtoTYPE ist schuld. Wir lesen sonst gar keine Bücher mehr, zu busy und so. In Wirklichkeit surfen wir die ganze Zeit und lesen spannende Fakten bei Wikipedia nach, die wir sofort wieder vergessen, weil wir unser Gedächtnis längst an das Internet ausgelagert haben.

Das habe ich mir nicht ausgedacht, das haben amerikanische Wissenschaftler herausgefunden. Wie die hießen? Weiß nicht, irgendwas mit F. oder mit L. vom MIT oder aus Stanford.  Moment, ich google das mal kurz. Und verlinke den Artikel dann noch fix bei Facebook, wo ich den Link dann im Zweifelsfall auch wieder herausfische, wenn mich jemand danach fragt, denn gemerkt habe ich mir den Namen noch immer nicht.

Viele mögen auch rein gar nichts mehr tun, ohne das anderen mitzuteilen, zum Beispiel wird am Sonntag Abend von manchen Leuten während des Tatorts die Folge auf Facebook kommentiert. Vielleicht nicht verwunderlich: Die Handlung der meisten Tatorte lässt dafür reichlich Raum, und irgendwie ist es ja auch ganz kuschelig, in einer virtuellen Loge zu sitzen und Gemaule über die kreative Geografie der Tatort-Locations mit den anderen Opas zu teilen.

Zurück zum Thema: Die Schlauen in meiner ProtoTYPE-Gruppe sagen immer, dass die Entwicklung des eBooks technikgetrieben verlaufen wird, und um das mal zu sampeln haben wir uns jetzt eine Apfelmatte und ein Gezündel zugelegt. Er Kindle, ich iPad. Das Resultat: 1) Es ist jetzt viel leiser in der Wohnung, weil unser jüngeres Kind iPad-süchtig geworden ist 2) Der Mann liest tatsächlich wieder mehr, hauptsächlich Klassiker, weil es die umsonst gibt. Und so lockt die Technik die Menschen wieder in die Arme der Kalliope zurück. (Preisrätsel: Wusste ich, dass Kalliope die Muse der epischen Dichtung ist oder habe ich mal kurz nachgeguckt?)

Gerade freut sich der Mann den ganzen Tag darüber, dass die Buddenbrooks viel unterhaltsamer sind als er dachte. Ich zu ihm „Dicker, das war sein erster Roman! Meinst du echt, den hätten sie damals so oft geliked, wenn er langweilig wäre?“ Er: „Was weiß ich, damals gabs ja noch nichts, sie mussten sich noch den ganzen Tag über das Essen und andere Leute unterhalten.“ Und genau da setzt Buddenbrooks dann ja auch an. Soweit ich weiß, denn gelesen habe ich nur den Wikipedia-Artikel. Aber interessant, dort heißt es, dass in den Buchhandlungen in Lübeck Listen auslagen, in denen man nachgucken konnte, wer welche Figur im Roman war. Wie geil ist das denn! Realité Augmenté zum Fin-de-Siècle, sozusagen!

 

Auf dem iPad hingegen lese ich nicht so viel, und das liegt nicht am Display: das iPad dient ja hauptsächlich zum Angeben, und Prosa eignet sich zum Angeben mit dem iPad sowas von überhaupt nicht. Außerdem ist das iPad eine Zerstreuungsmaschine und kann so viele tolle Sachen, dass es einem beinahe wie Verschwendung vorkommt, nur ein schnödes Buch darauf zu lesen.

Weil man mit dem iPad so gut angeben kann, leuchtet es den Menschen eher ein, dass sie eins haben wollen, der eBook-Reader muss schon von einer nahestehenden Person wortreich beworben werden, während die Umstehenden sagen: „Ich weiß ja nicht, ich habe ja lieber ein Buch in der Hand...“, während der eBookfan mehrere Male rituell versichern muss, dass er jetzt wieder viel mehr liest als früher, und dass es genau so ist wie ein Buch, nur praktischer und dass man in der Sonne lesen kann, als ob man in unseren Breitengraden ausschließlich in der Sonne läse. Der iPad-Besitzer holt einfach nur sein Gerät aus der Tasche und sagt: „Ich habe jetzt ein iPad 3, willst du mal das Display sehen?“

Was lernen wir daraus?

1)   Konsum macht glücklich

2)   Das klassische Leseerlebnis, bei dem ein Leser alleine mit einem Text ist und außer lesen nichts weiter tut, erodiert von mehreren Seiten

3)   Die Seiten von denen es erodiert, haben mit der verfügbaren Technik und der baujahrbedingen Synapsenverkabelung der Rezipienten zu tun

4)   Wir sind nicht die erste Generation, die schadenfrohe Listen veröffentlicht. Auch nicht die zweite.


Sonja Vogt studierte Kulturwissenschaft, deutsche und englische Literatur in Bremen und Cambridge. Sie war einige Zeit am Theater tätig, bevor sie anfing, interaktive Ausstellungen zu konzipieren. Heute beschäftigt sie sich mit Inhalten und Interaktionen in unterschiedlichen Medien. Sie hatte noch nie etwas mit der Buchbranche zu tun, mag aber neue Herausforderungen insofern man sie interaktiv gestalten kann.