Rainald Goetz und Diedrich Diederichsen an der Humboldt Universität

Mehr wirres Denken

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Schlicht „mehr“ haben der Schriftsteller Rainald Goetz und der Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen ihren Abend im Rahmen der Mosse-Lectures genannt, der schon alleine deshalb denkwürdig war, weil die Auftritte des Autors Goetz Seltenheitswert haben und von daher – weil sie sich zwar Prinzipien der Serialität verpflichtet fühlen, aber gleichwohl verweigern – Einzigartigkeit beanspruchen.

Das Interesse war dementsprechend groß: Der Senatssaal der Humboldt Uni war überfüllt, das halbe Hauptstadt-Feuilleton hatte sich eingefunden, etliche Schriftsteller waren unter den Gästen. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass hier etwas Unberechenbares stattfinden sollte. Die wenigen öffentlichen Auftritte von Goetz sind zwar genau geplante Popkonzerte, allerdings mit offenem Ausgang. Ein hypernervöser, wahrnehmungsmanischer, jugendlich wirkender fast sechzigjähriger Autor versucht auf der Bühne sein dem Assoziationsoverkill nahe kommendes Denken auszustellen.

Das ist von immenser Intensität und Klugheit, geleitet immer von einem schwärmerischen Impuls, der sowohl in der Begeisterung als auch in der Ablehnung von bestimmten Erscheinungen der Kunst und Gegenwart von vehementer Suggestionskraft ist. Rainald Goetz wirkt gehetzt und kontemplativ zugleich. Diese Spannung scheint ihn zu zerreißen, und sie überträgt sich aufs Publikum: es entsteht bei Goetz im Überschwang der emphatischen Rede tatsächlich ein „Mehr“ an Schärfe, Genauigkeit, Zerstreuung. Aus dem Überschwang wird zugleich ein Überschwall der Gedanken: Über alles wird hier mit unglaublicher Energie getextet.

Diedrich Diederichsen, Übervater der Popkritik und Lehrstuhlinhaber für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der Künste in Wien, gibt eher den coolen, abgeklärten, mit Formen spielenden Professor. Ein odd couple, die beiden, aber eines, das sich auf wunderbare Weise ergänzt und den Humboldtsaal rockt.

Rainald Goetz hat 1983 seinen ersten Roman „Irre“ veröffentlicht und danach in immer größer werdenden Abständen immer systematischer aufgebaute, serienhafte Werke geschaffen – in den neunziger Jahren etwa den auf sieben Bände angelegten Gegenwarts- und Techno-Zyklus „Heute morgen“; seit einigen Jahren arbeitet er an einer in Fragmenten erscheinenden Geschichte der Nuller Jahre. Berühmt ist sein aus einem Internet-Tagebuch entstandener Band „Abfall für alle“ aus dem Jahr 1999, der das enthielt, was Goetz nun in einem ersten Teil der Vorlesung als das schönste überhaupt bezeichnete: „die Serialität der Realität, die Serie der gelebten Tage, Stunden, Minuten“. Das Tagebuch als Mixtur von Banalität und Philosophie, von Tragik und Narration entwickle einen trancehaften Sog. Das Ungekürzte, die Totalität fessele.

„Journal“ bezeichnet im Französischen das Tagebuch, aber zugleich die regelmäßig erscheinende Zeitung, um die es an diesem Abend ebenfalls ging. Das materielle Presseerzeugnis – im Gegensatz zu den liquiden Informationsformen im Internet – bildet in einem bestimmten Moment die gesamte Welt ab, schafft auf begrenztem Raum ein Ordnungssystem im Kontingenzgewusel der Welt. Und erzeugt zugleich eine riesige, wirre Assoziationskette – mit Bildern, Überschriften, Texten, die einen überreizten Geist wie den von Goetz natürlich zutiefst affizieren. Es waren grob zusammengefasst diese Zeit- und Erscheinungsformen des Alltags und der Kultur, die Goetz und Diederichsen in kleinen Vortrags- und Gesprächsblöcken interessierten: Wie wird voyeurismusfähiges Material in verschiedenen Formaten geordnet; nach welchen Prinzipien erfolgt die Auswahl, in welchem Zusammenhang stehen Kunst und Entwicklung, Wiederholung und Differenz, Teil und Ganzes. Im besten Sinne entstand hier ein wirrer Diskurs, der sich eben auch wie die Zeitungseiten selbst aus markanten Schlagzeilen, analytischen Teilen, bildhaften Zuspitzungen zusammensetzte.

Das ist das, was Joseph Vogl, Direktor des Instituts für deutsche Literatur an der Humboldt Universität, in seiner kurzen Einführung wohl meinte: Als Goetz und Diederichsen Anfang der achtziger Jahre reüssierten, hätten sie es geschafft, nicht nur eine theoretisch aus den Fugen geratene Zeit, sondern auch sich selbst und die Leser auf einen Nenner zu bringen. Das hat nicht zuletzt mit einem Gestus, mit einer Sprache, mit einem spielerischen, rhizomatischen Denken zu tun. Der Abend an der Humboldt Uni, der sich eben kaum thesenhaft zusammenfassen lässt, beweist: sie können es irgendwie immer noch. Und den Titel der Vorlesung könnte man zum Wunsch umformulieren: „mehr“ davon wäre ganz schön. Rainald Goetz immerhin kann man am kommenden Donnerstag im Hörsaal 1b der Freien Universität Berlin ein weiteres Mal erleben, dann bei seiner Antrittsvorlesung zur Heiner-Müller-Gastprofessur mit dem Thema: „Leben und Schreiben. Der Existenzauftrag der Schrift“.

Seit 1997 finden an der Humboldt Universität in Berlin die Mosse-Lectures statt, die an das Werk des Historikers George L. Mosse und an das liberale Erbe des Verlagshauses Rudolf Mosse erinnern sollen. Die interdisziplinäre und internationale Vorlesungsreihe widmet sich jedes Jahr einem neuen kulturwissenschaftlichen Thema. 2012 geht es um „Formate des Seriellen in den Medien und Künsten“. Was steckt hinter der „Ästhetik der Serie“, von der Umberto Eco spricht, hinter dem Bedürfnis den Alltag zu ritualisieren, in der Wiederholung etwas Neues oder Anderes zu finden? Von den Fortsetzungsromanen eines Charles Dickens bis zu den vieldiskutierten amerikanischen Fernsehserien, die das Fernsehformat längst hinter sich lassen, wie „The Wire“ reicht das narrative Spektrum, das dabei untersucht wird.