LCB-Treffen

Literarische Gegenwärtigkeit

23. Juli 2015
von Börsenblatt
„Die Gegenwart mitschreiben“ – so lautete der Titel des zweitägigen Autoren- und Kritikertreffens, das vom Literarischen Colloquium Berlin Anfang dieser Woche veranstaltet wurde. Eine mäandernde, aber immer geistreiche Diskussion hat Wolfgang Schneider erlebt.

Unter den zwanzig Teilnehmern war auch Thomas von Steinaecker, der gerade einen Roman über eine Versicherungsangestellte vorgelegt hat, der Mechanismen des Kapitalismus schildert: Finanzkrise als besonders aktuelles Thema. Mit Steinaeckers Polemik gegen die „Wellness“-Literatur, womit er die „Schwemme brav erzählter realistischer Familienromane“ und die die „risikofreie Zone“ des herkömmlichen Geschichtsaufarbeitungsromans meinte, stand die Forderung nach  innovativen Formen im Tagungsraum des LCB. Dagegen entwickelte der Schweizer Lukas Bärfuss heftigen Widerwillen. „Innovation“ sei für ihn ein Begriff aus der Ökonomie und der Werbesprache, der in Kunst und Literatur wenig zu suchen habe. Wichtiger sei die Frage, warum wir Sophokles verstehen können.

Was heißt das überhaupt, Gegenwart „mitschreiben“? Man unterschied einen mimetischen Begriff des Mitschreibens von einem operativen, wofür das aktuelle Beispiel ein gewisses Israel-Gedicht war. Da hat Günter Grass das Drehbuch der medialen und politischen Gegenwart tatsächlich für zwei Wochen mitgeschrieben, anstatt bloß „mitzuschreiben“. Eine weitere, diskurstheoretische Variante hatte der Kritiker Jörg Magenau zu bieten: der Autor, der von der Gegenwart „mitgeschrieben“ wird. Ähnlich schillernd der Begriff der „Gegenwart“, der für Thomas Lehr immerhin die letzten hundert Jahre umfasst.

Die Qualität eines guten Textes besteht darin, dass er beim Leser Präsenz schafft. In diesem Sinn bemüht sich jeder Autor, der nicht bloß auf einen Bestseller zielt, sondern literarischen Anspruch erhebt, um „Gegenwärtigkeit“. Die Gefahr dieser weiten Definition besteht darin, dass die Begriffe austauschbar und nichtssagend werden: Ein guter Text ist ein guter Text. Der Kritiker Lothar Müller wollte konkreter werden und forderte eine Diskussion über den Satzbau. Was hat es zu bedeuten, dass Autoren wie Richard Ford (und seine internationalen Nachahmer) dicke Romane nicht mehr als raunende Beschwörer des Imperfekts schreiben, sondern durchweg in der Zeitform des Präsens?

Ein Mittel, sich einer Wirklichkeit mitschreibend anzunähern, ist die Recherche, über die dann im handwerklichen Teil der Tagung diskutiert wurde. „Nichts schlimmer als recherchierte Literatur“, meinte Rainer Merkel, man müsse vielmehr „in die Erfahrung gehen“. Womit nichts gegen Recherche als Anlauf für den literarischen Sprung gesagt war, sofern man eben das Material beiseite lässt, wenn es darauf ankommt. Annett Gröschner berichtete von ihren aufwändigen Recherchen für den Berlin-Roman „Walpurgistag“ – am Ende habe sie kaum etwas davon verwendet. Ganz ähnlich ging es Thomas Pletzinger bei seinem Doku-Roman über die Berliner Basketball-Szene („Gentlemen, wir leben am Abgrund“). Zuletzt war die eigene zwanzigjährige Sporterfahrung dafür wichtiger als die 150 Stunden Audiomaterial.

Ein wenig mäandernd verlief die Diskussion, aber immer geistreich, etwa wenn Burkhard Spinnen sein Diskussionsgefühl geradezu existentialistisch formulierte: „Ich habe permanent das Gefühl, ich habe mich an der falschen Kasse angestellt.“ Da war es wieder, das Gespenst der Ökonomie. Spinnen selbst hat mit „Der schwarze Grat“ einen Doku-Roman über das Wirtschaftsleben und einen mittelständischen schwäbischen Unternehmer geschrieben, bevor das zum heißen Trend ausgerufen wurde. Dafür werde sein Buch heute in betriebswirtschaftlichen Seminaren gelesen: als Beispiel dafür, wie man es nicht machen solle, wenn das eigene Unternehmen länger als zwei Jahre bestehen solle. Und Thomas Pletzinger hat es geschafft, vor 12.000 Zuhörern zu lesen, in der Pause eines Basketballspiels. Wenn das keine literarische Gegenwärtigkeit ist.