Interview

"Alle zehn Tage stirbt eine Sprache aus"

19. April 2012
von Börsenblatt
Eine mathematisch-sprachliche Doppelbegabung war er schon als Schüler: der Gießener Mathematikprofessor und Sprachwissenschaftler Ernst Kausen. Bei Buske bringt er in zwei Bänden ein Mammutwerk für Fachwelt und interessierte Laien heraus: "Die indogermanischen Sprachen" und "Die Sprachfamilien der Welt". Mehr zu neuen Fachbüchern aus Wissenschaft, Medizin, Recht und anderen Gebieten lesen Sie im Extra Fachmedien, das in Börsenblatt 16 / 2012 erscheint.

Wie viele Sprachen werden heute weltweit gesprochen?
Nach meiner Schätzung rund 6.000 bis 6.500. Andere Schätzungen liegen zwischen 5.000 und 8.000. Oft ist es schwierig, zwischen "Dialekt" und "Sprache" zu unterscheiden, was zu diesen unterschiedlichen Zahlenangaben führt.

Und wie viele werden es noch in zwei bis drei Generationen sein?
Wahrscheinlich nur noch die Hälfte. Alle zehn Tage stirbt zur Zeit im statistischen Mittel der letzte Sprecher eines Idioms und damit eine Sprache samt ihrer Tradition; innerhalb eines jeden Jahres verschwinden etwa 35 Sprachen vom Globus. Das Sprachensterben ist also viel rasanter als das zu Recht beklagte Aussterben biologischer Arten. Der Sprachentod ist aber in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Die Möglichkeit, auf den massiven Sprachenverlust hinzuweisen, war eine wesentliche Motivation für meine Arbeit.

Es gibt eine Gesellschaft für bedrohte Völker. Gibt es auch Organisationen, die sich für den Schutz von Sprachen einsetzen?
Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Organisationen weltweit, die sich dem Thema widmen und sich konkret für gefährdete Sprachen einsetzen. Insbesondere ist es wichtig, bedrohte Sprachen noch so gut wie möglich zu dokumentieren, bevor ihr letzter kompetenter Sprecher gestorben ist. Eine aktuelle Übersicht über die gefährdeten Sprachen bietet die von kompetenten Fachleuten herausgegebene "Encyclopedia of the World's Endangered Languages".

 
Sie sind im Hauptberuf Hochschullehrer für Mathematik. Wie kam es zu dem Großprojekt, alle Sprachfamilien systematisch darzustellen?
Das intensive Interesse an Sprachen – insbesondere an ihren grammatischen Strukturen – reicht in meine Schulzeit zurück, wo ich Latein, Griechisch und Hebräisch lernte. Ich habe dann Mathematik und Informatik sowie in einem zweiten Studium Ägyptologie, altorientalische Sprachen und Allgemeine Sprachwissenschaft studiert. Aus pragmatischen Gründen entschied ich mich nach meiner mathematischen Promotion zunächst für eine Tätigkeit als IT-Fachmann in einem großen Konzern. Vier Jahre später kam dann der Ruf an die Technische Hochschule Mittelhessen als Professor für Mathematik und Theoretische Informatik. Neben meiner beruflichen Tätigkeit konnte ich mehrere altägyptische Texte für die wissenschaftliche Reihe "Texte aus der Umwelt des Alten Testaments" übersetzen und bearbeiten. Für die Wikipedia habe ich zwischen 2006 und 2008 etliche Artikel über altorientalische und isolierte Sprachen sowie über große Sprachfamilien verfasst. Viele dieser Artikel sind in Übersetzungen auch von der englischen und anderen Wikipedias übernommen worden; zum Teil wurden sie sogar in Fachstudiengängen herangezogen.

Seit wann wollten Sie daraus ein Buch machen?
Die Idee, ein Buch über die Sprachfamilien der Welt zu schreiben, ist schon mindestens 15 Jahre alt. Aber erst durch die Kontakte zum Buske-Verlag und insbesondere zu Michael Hechinger gelang es mir, meine Konzeption angemessen zu realisieren.

Wann gab es zuletzt eine deutsche Übersicht über alle Sprachfamilien weltweit?
In Ernst Kieckers Buch "Die Sprachstämme der Erde" aus dem Jahr 1931. Seither gab es keinen Versuch einer Gesamtübersicht. Ich werde in rund 30 Kapiteln alle Sprachfamilien und isolierten Sprachen weltweit darstellen, die Hauptgliederung ist geographisch nach den Kontinenten Eurasien, Indopazifik & Australien, Afrika & Nahost sowie Amerika. Neben den historischen, soziolinguistischen, genetischen und grammatischen Übersichten über die einzelnen Sprachgruppen enthält das Buch grammatische Skizzen ausgewählter, typologisch besonders interessanter Einzelsprachen. Wichtig für den praktischen Gebrauch sind auch die (möglichst) aktuellen Sprecherzahlen aller Sprachen weltweit.

Weshalb haben Sie die "Indogermanischen Sprachen" in einem bereits erschienen Extraband veröffentlicht?
Dieser Teil hatte einen Umfang angenommen, der in keinem angemessenen Verhältnis zum Rest des Buches stand. Das Feedback von zahlreichen Nutzern – vor allem Germanisten, Romanisten, Slawisten, aber auch Indogermanisten – ist sehr positiv. Das macht Mut für den zweiten, umfassenderen Band, der Ende 2012 oder Anfang 2013 bei Buske erscheinen wird.

Interview: Michael Roesler-Graichen

 

Bibliographie

Ernst Kausen: Die indogermanischen Sprachen von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Buske Verlag 2012 (bereits erschienen), XXXVI, 739 Seiten und vier farbige Tafeln, gebunden 68 Euro, ISBN 978-3-87548-612-4

ders.: Die Sprachfamilien der Welt in Geschichte und Gegenwart. Buske Verlag, voraussichtlich Ende 2012 oder Anfang 2013, ca. 1.250 Seiten, ca. 112 Euro, ISBN 978-3-87548-586-8