Die Sonntagsfrage

Wie wichtig ist die Leipziger Buchmesse für Literatur aus Osteuropa?

18. März 2012
von Börsenblatt
"Tranzyt" heißt der neue Programmschwerpunkt der Leipziger Buchmesse, der die Literatur Polens, Weißrusslands (Belarus) und der Ukraine einem breiteren Publikum vorstellen und Übersetzungen in deutschsprachigen Verlagen fördern möchte. Boersenblatt.net hat Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe gefragt, was dieses Projekt der Leipziger Buchmesse für die osteuropäische Literatur und unser Verhältnis zu ihr bedeutet.

"Die Tranzyt-Initiative ist hoch zu loben, denn sie erinnert an eine alte europäische Verbindung: Polen, Belarus und die Ukraine, zu der historisch auch Litauen gehört. Ein freies Polen war der Traum von Jerzy Giedroyc, dem langjährigen Herausgeber der Exilzeitschrift „Kultura“ in Paris, ein freies Polen, das es nur geben kann, wenn dieser Teil Ostmitteleuropas seine staatliche Souveränität zurückerlangt hat, nicht länger unter sowjetischer Vorherrschaft.

Vor mehr als 20 Jahren ist dieser Traum in Erfüllung gegangen; dennoch wissen wir noch immer erstaunlich wenig über die östlichen Nachbarländer Polens und ihre Literatur. Ein Vermittler wie Karl Dedecius, der nach dem 2.Weltkrieg loszog und deutsche Verlage mit seinen unzähligen Vorschlägen belästigte, der ihnen die späteren Nobelpreisträger Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska, aber auch den wunderbaren Zbigniew Herbert ins Haus trug, eine solche „Tranzyt“-Persönlichkeit war ein Glücksfall. Bis heute ist die polnische Literatur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt präsent und wird intensiv und kompetent übersetzt, von Hanna Krall bis Andrzej Stasiuk, von Olga Tokarczuk bis Dorota Maslowska. Diese Autoren haben ein treues Publikum gefunden, das längst nicht mehr nur aus speziell interessierten Lesern besteht.

Was dagegen in der Ukraine oder in Belarus passiert, das steht viel weniger im Fokus und ist den meisten Menschen schlicht unbekannt. Eine kämpferische Dankesrede von Martin Pollack, dem letztjährigen Preisträger des Leipziger Buchpreises für Europäische Verständigung, stand am Anfang. Die Initiative, einen Dreiländerschwerpunkt Tranzyt in Gang zu bringen, war im Grunde aus der Beschämung geboren, wie wenig wir die die Geschichte und die aktuelle politische und kulturelle Situation dieser Länder kennen, deren tragische Geschichte im 20. Jahrhunderts aufs engste mit der unseren verknüpft ist.

Autoren, Übersetzer, Verleger, Journalisten, literarische Vermittler sind eingeladen, ihre Arbeit, ihre Ideen, ihre Bücher vorzustellen. Und da es Zeit braucht, bis sich Kontakte gefestigt haben und kompetente Entscheidungen möglich sind, ist die Initiative auf drei Jahre angelegt. In diesem Zeitraum können deutschsprachige Verlage klug und verantwortungsvoll auswählen, können engagierte Lektoren mit engagierten Übersetzern arbeiten, und vor allem kann man sich überlegen, welche Bücher sich wirklich lohnen. Die Auswahlkriterien müssen streng sein, was die Qualität, aber auch die Relevanz betrifft. Nichts trauriger als für eine Nische in der Nische zu produzieren. Die Bücher, die im Zuge von Tranzyt übersetzt werden, müssen wahrgenommen werden. Preise und Übersetzungsförderungsprogramme seitens staatlicher Institute (wie in Polen) oder privater Stiftungen (wie in Russland) sind in der Ukraine und in Belarus ein Desiderat. Auch hier bietet Tranzyt einen Rahmen für neue Ideen. Dennoch: Ein Verlag macht nicht Bücher weil sie gefördert werden, ein Verlag macht Bücher, weil er an sie glaubt."

Katharina Raabe studierte Musik, Musikwissenschaft und Philosophie. Sie war als Violinistin und Musikpädagogin tätig, bevor sie beim Rowohlt Verlag Berlin Lektorin wurde. Seit mehr als zehn Jahren ist sie beim Suhrkamp Verlag für dessen umfangreiches osteuropäisches Programm zuständig. Sie entdeckte unter anderem Autoren wie Andrzej Stasiuk für den deutschen Sprachraum und ist unermüdlich in ganz Europa auf Buchmessen unterwegs. 2007 wurde ihr für ihr Engagement für die Literatur Osteuropas das Bundesverdienstkreuz verliehen.