ACTA und das Internet

Netzpropaganda: Das "ACTA-Video"

23. Februar 2012
von Börsenblatt
3,4 Millionen Mal wurde im Internet das Protest-Video "Was ist ACTA?" geklickt. Sein Inhalt: die düstere Vision einer Zukunft, in der dank ACTA  jede Weitergabe von "Informationen" ohne Erlaubnis verboten ist und sanktioniert wird. Ein Stück aus der Propagandaküche der Netzaktivisten, das zeigt, wie im Internet Mehrheiten mobilisiert werden, die nicht den realen Verhältnissen in Recht, Politik und Gesellschaft entsprechen. Ein Beitrag von Stefan Herwig.

Möglicherweise wird der 27. Januar 2012 eines dieser versteckten Daten sein, welches kaum wahrnehmbar in letzter Konsequenz den Lauf unserer Geschichte beeinflusst. Während aber zum Beispiel der 4. September 1989, der Tag der ersten Montagsdemonstration in Leipzig, als positiv legendärer Tag in das kollektive Gedächtnis eingegangen ist, wird das Urteil der Nachwelt über den 27. Januar 2012 wohl anders ausfallen. Am 27. Januar 2012 lud der Netzaktivist Bruno Kramm das von ihm selbst deutsch synchronisierte Video "Was ist ACTA?" (verfasst von Anonymous) bei YouTube hoch.

Das Video ist – man kann nicht umhin es zuzugeben – eine Erfolgsstory. Insgesamt mehr als 3,4 Millionen Klicks hat es binnen weniger als zwei Wochen auf YouTube erreicht. Das ist nicht nur bemerkenswert, weil es ein rein deutschsprachiges Video und somit nur für den deutschsprachigen Raum relevant ist. Es ist zugleich beängstigend, weil dieses Video eine dystopische Propaganda betreibt. "Was ist ACTA?" zeichnet ein düsteres Bild des jüngst heftig in Bedrängnis geratenen Handelsabkommens, an dem die EU und elf weitere Länder wie Japan, die USA und Singapur seit 7 Jahren feilen.

Schenkt man dem Video Glauben, so droht uns nicht nur eine Mixtur aus Netzsperren und internationaler Vorratsdatenspeicherung, sondern ein Überwachungsstaat, in dem jedermann, der Informationen (!) ohne Erlaubnis "teilt", mit Überwachung und Gefängnisstrafe zu rechnen hat. Orwells Utopie "1984" scheint dagegen fast wie ein Feriencamp, aber anders als der Roman behauptet das Video, keine Fiktion zu sein. Das "Was ist ACTA?"-Video ist sowohl Informationsreservoir als auch ideologisches Rückgrat des deutschen ACTA-Widerstands. Seine "Approval Ratings" bei YouTube liegen mit 98 Prozent Empfehlungen und 2 Prozent Ablehnungen beängstigend hoch.

Proteste – von der Realität abgekoppelt

Man muss kein Urheberrechtsexperte oder Politikwissenschaftler sein, um zu begreifen, dass die in diesem Video unterstellten Effekte von ACTA nichts, aber auch gar nichts mit der Realität bzw. den wahren Inhalten des Abkommens zu tun haben. Und trotzdem sind am Samstag, den 11. Februar, bei nicht unerheblichen Minusgraden über 40.000 Demonstranten in Deutschland und angeblich mehr als 150.000 in Europa auf die Straße gegangen, um gegen Internetsperren, ACTA, die Vorratsdatenspeicherung und nicht zuletzt gegen die Kreativwirtschaft zu demonstrieren. Kaum auszudenken, wie viele es gewesen wären, wenn nicht einen Tag vorher die Bundesregierung – bezeichnenderweise über einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes – hätte verkünden lassen, die Ratifizierung von ACTA vorerst auszusetzen. Dem vorangegangen sind die Verweigerungen der Ratifizierung in Slowenien, Polen und Tschechien: Wie Dominosteine fallen die Landesparlamente, die dem Handelsabkommen ursprünglich beitreten wollten, nacheinander um.

Hierbei scheint es niemanden zu interessieren, dass das Europaparlament ACTA in einem detaillierten Rechtsgutachten bereits für vollkommen unbedenklich erklärt hat, und dass Sabine Leutheuser-Schnarrenberger - nicht gerade als glühende Verfechterin von Netzsperren und Vorratsdatenspeicherung bekannt -  gleich mehrfach erklären durfte, dass ACTA an der deutschen Rechtslage absolut nichts ändere. Das ACTA-Video schuf in den letzten Tagen somit ein gefährliches Präzedenz: Ein clever gemachtes, mit bedrohlicher Musik unterlegtes Propagandavideo von Internetaktivisten, das mit einer simplifizierenden Zeichensprache arbeitet, überlagert sowohl den Politik- als auch nahezu den gesamten Medienbetrieb mit Falschinformationen. Die Verführbarkeit der Massen, die bedrohliche gut-böse-Polarisierung des Videos, die bewusste Desinformation mit Hilfe der simpelsten Mittel der Propaganda, das Versagen der traditionellen Medien bei der Einordnung des Videos und zu guter Letzt die absolute Hilflosigkeit der etablierten politischen Vertreter lassen in unserem Kulturkreis düsterste Assoziationen entstehen. Gerade die Darstellung der Politik als von einem omnipotenten Kreativwirtschaftslobbyismus beeinflusste Erfüllungsgehilfin schafft bei der Netzgemeinde ein problematisches bipolares Meinungsbild, das gänzlich ohne Graustufen auskommt. Da bekommt der Ausdruck "digitale Gesellschaft" gleich eine völlig neue Konnotation.

Organisierte Desinformations-Sphäre im Netz

Diese Bedenken, hinsichtlich einer organisierten Desinformations-Sphäre im Internet, erscheinen gegenüber dem Anlass der Demonstrationen - einem nicht einmal ratifizierten Handelsabkommen -  zunächst übertrieben. Allerdings kann dieses sorgsam gepflegte Desinformations-Reservoir von den anonymen Rädelsführern der Proteste beim nächsten Anlass problemlos wieder aus dem Propaganda-Hut gezogen werden. Insofern dürfte das ACTA-Abkommen hier nur der Kanarienvogel im Bergwerkstollen sein, denn eine hysterische, politikverdrossene und selbstreferentielle Netzgemeinschaft hat hier trotz nachweislich falscher Informationslage vorerst ihr Unrecht erstritten. Bei der faktischen Einordnung dieses Protestes haben darüber hinaus alle medialen und politischen Korrektive auf ganzer Linie versagt. Und wir dachten, das Internet macht uns einfach schlauer.

Es ist also höchste Zeit für eine kritische medientheoretische Auseinandersetzung mit diesem „Super-Medium“ Internet (Jahrbuch der Journalisten 2012). Diese kann aufgrund der Länge dieses Beitrags nur eine grobe Skizze sein: Das Internet macht unsere Gesellschaft weder intelligenter, noch recherchekompetenter, es verstärkt vornehmlich mehrheitsfähige Meinungen und verleitet dann zur Mobilisierung, wenn die Realität mit diesen Meinungen in Konflikt tritt. Darüber hinaus schwächt es Minderheitsmeinungen in den jeweiligen Informationssphären systemisch ab. Das Internet demokratisiert also die Wahrheit. Das Problem ist nur, dass Wahrheit sich nicht über demokratische Abstimmungen herstellen lässt. Wahrheit ist nicht demokratisch, sie ist objektiv.

Algorithmische "Mainstreamisierung" von Meinungen

Daraus folgt: Bestimmte Nutzergruppen können sich so selbstreferentiell immer wieder ideologisch aufladen und rückbestätigen, nahezu unbehelligt von gegenteiligen Meinungen. Ein der Gesamtgesellschaft dienendes Medium sollte jedoch genau das Gegenteil bewirken: Es sollte den Diskurs fördern und vorherrschende Meinungen immer wieder herausfordern, so dass die Gesellschaft am Diskurs wachsen, andere Perspektiven kennenlernen und Differenzierungsfähigkeit sowie Medienkompetenz ausbilden und üben kann. Doch diese Evolution wird schon von dem bei weitem stärksten Selektionskriterium, welches nahezu das gesamte Netz ordnet, systemisch abgewürgt: Der Google-Suchalgorithmus bewirkt mit seiner Gleichsetzung von Popularität und Relevanz eine "Mainstreamisierung", eine zusammenordnende Vorformatierung von Meinungen, die im mittelfristigen gesellschaftlichen Blickfeld nur ein Adjektiv verdient: gefährlich.

Während in der Internet-Enquete ideologische Netzaktivisten und pseudokompetente Jungpolitiker glauben, dem Internet könne mit Netzneutralitätsdebatten ein Informations-Reinheitsgebot gesetzlich verordnet werden, unterwandern Verschwörungstheoretiker, Netzaktivisten und nicht zuletzt Anonymus - übrigens die Schöpfer der Originalversion des Anti-ACTA-Videos - beeinflussbare Bevölkerungsgruppen mit dieser algorithmisch induzierten Desinformation. Sie findet also nicht auf der technischen Ebene statt, auf der die Netzneutralität greifen soll, sie ist tief in die infrastrukturelle DNA des Internets eingeschrieben.. Die „Likes“, die „Diggs“, die Anzahl der Freunde auf Facebook oder die der Twitter-Follower, all dies sind logische Ableitungen aus dem Master-Algorithmus „Popularität = Relevanz“ der das Netz beherrscht. Everything counts in large amounts, oder besser: The higher the amount, the more it counts. Für die Erosion von Medienkompetenz, von Differenzierungsfähigkeit, die ja überhaupt die gesellschaftlich gewünschten Effekte von funktionierender Meinungsfreiheit sind, bedeutet dies einen europaweiten(!) gesellschaftlichen Schwelbrand, den wir noch lange nicht dechiffriert haben. Die Empfänger dieser Desinformation reagieren mehrheitlich mit Politikverdrossenheit, Medienabschottung, ihre Protestmärsche sind – noch - friedlich. Aber wir können Medienabschottung oder Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft nicht beliebig skalieren, ohne dass die Demokratie selbst empfindliche Schäden nimmt. Wer diese Effekte noch bezweifelt, lese sich die YouTube-Nutzerkommentare zum „Was ist Acta“-Video durch.

Die These der sich fragmentierenden Öffentlichkeiten durch im Netz abgeschirmte und unregulierte Informationssphären ist spätestens seit diesem Februarwochenende bewiesen, und die Fachmedien Süddeutsche, TAZ, Zeit und FAZ setzen dieser Präzedenz eine Berichterstattung entgegen, die die Bezeichnung "vierte Gewalt" nicht mehr verdient. Sie gaben das mediale Zepter, die Deutungshoheit, an Anonymous und nicht zuletzt an den unregulierten Informationskanal YouTube ab, der, um das ganze Ausmaß der Problematik sichtbar zu machen, einen nicht unerheblichen Nutzen aus einem schwachen Urheberrecht und einem gescheiterten ACTA-Abkommen zieht. Wenn die Politik kein Mittel findet, diese Systeme zu regulieren, sind die gesellschaftlichen Folgen, die sich hier mittelfristig einstellen könnten, nicht abzusehen. Der Wutbürger, der ACTA-Protestant sind lediglich Vorboten einer gesellschaftlichen Entwicklung, die wir nicht ernst genug nehmen können. Nun, seit dem 27. Januar 2012, kann kein Medienvertreter mehr guten Gewissens sagen, er habe von alldem nichts gewusst.

Stefan Herwig

Der Autor ist Betreiber des Independent-Musiklabels "Dependent", und besitzt einen kommunikationswissenschaftlichen Hintergrund. Seit 2009 betreibt er eine Agentur, in der er Kreativwirtschaftsunternehmen und -verbände hinsichtlich der Auswirkungen von Digitalisierung berät. Wir danken dem Autor für den Abdruck des Textes, der zuerst in der "Musikwoche" erschienen ist.