Thilo Bock über den Schokoladen in Berlin

"Kreative Keimzelle voll unangepasster Fröhlichkeit"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Ist der Schokoladen in Berlin-Mitte gerettet? Das fragt sich der Berliner Schriftsteller Thilo Bock auf boersenblatt.net. Die polizeiliche Räumung des besetzten Kulturhauses, die für den 22. Februar angekündigt wurde, wurde nach massiven Protesten von Kunsttreibenden ausgesetzt.
Rot ist die vorherrschende Farbe im Schokoladen, Rosenrot. Der Bühnenraum ist mit an vielen Stellen geflicktem Rosendekor tapeziert. Jeden Dienstag findet hier die Lesebühne Liebe statt Drogen statt. Regelmäßig finden sich hier weit über hundert Menschen ein, um enggedrängt den neuesten Kurzgeschichten und Songs von Lokalmatadoren wie Uli Hannemann oder Ivo Lotion zu lauschen. Beim Vortrag stehen diese in einer Ecke der Bühne am Mikrofon. Hinter ihnen sitzen die mitwirkenden Kollegen sowie zwanzig, dreißig Zuschauer, die woanders keinen Platz mehr gefunden haben.

In der Atmosphäre unangepaßter Fröhlichkeit wird viel gelacht, gejuchzt und gejubelt. Nur das Sprechen ist den Akteuren vorbehalten. "Ooch wenn dis ‘ne Untahaltungsveranstaltung is’", betont Vorleser Andreas Krenzke, besser bekannt als Spider, zu Beginn der Show, "ihr dürft euch nich’ untahalten". Jedenfalls nicht aktiv. Viele hier sind jung, manchmal kommen ganze Schulklassen auf Berlinbesuch. Für einige eröffnet sich so eine neue Welt sowie die Erkenntnis, was Literatur auch sein kann: aktuell und lustig. Der Eintritt ist niedrig, die Getränke sind bezahlbar. Kultur ist für alle da.

Der Schokoladen gilt als einer der letzten Orte seiner Art, ist eine Bastion unsubventionierter Kreativität im Zentrum Berlins. Seit Jahren droht ihm das Aus. Für den 22. Februar war bereits eine polizeiliche Räumung angesetzt, die erst nach massiven Protesten von vielen Seiten wenige Tage davor abgesagt worden ist.

In den Jahren nach dem Mauerfall entstanden in vielen leerstehenden Immobilien im Zentrum Ostberlins kreative Oasen, unkommerzielle Brutstätten für unkonventionelle Ideen. Zu den ersten gehörte eben der Schokoladen, benannt nach einer von 1911 bis 1971 dort auf dem Hof existierenden Schokoladenfabrik. Neben günstigen  Wohnungen, Ateliers und Probenräumen gibt ein kleines Theater, den Club der polnischen Versager sowie – als Herzstück – die Kneipe mit besagter Bühne. Auf der spielen regelmäßig Bands aus dem In- und Ausland, falls nicht Dienstag ist.

Eine Lesebühne ist ein festes Ensemble von vier, fünf oder sechs Autoren, die allwöchentlich zumeist gerade erst geschriebene Geschichten oder Lieder vortragen. Meistens laden sie sich befreundete Kollegen dazu. Bei Liebe statt Drogen besteht zudem die Möglichkeit, aus dem Publikum zu treten und sich am Offenen Mikrofon selber auszuprobieren. Das ist eins der Kernprinzipien der seit Mitte der neunziger Jahre in Berlin florierenden Lesebühnenszene: Jeder kann mitmachen, solange er kurz und unterhaltsam ist und bereit, Teil einer Gruppe zu sein. Im Gegensatz zum Poetry Slam kommen Lesebühnen ohne Wettbewerb aus.

Irgendwo in Berlin findet immer eine Lesebühne statt. Eine der ersten, die Reformbühne Heim & Welt, wurde 1995 im Schokoladen gegründet. Autoren wie Wladimir Kaminer, Ahne oder Jakob Hein begannen hier ihre Karrieren. Nur in Lokalen wie dem Schokoladen konnten Lesebühnen entstehen, weil es keine eingefahrenen Konzeptionen gab, keinen Erwartungsdruck, sondern die Bereitschaft, andere etwas ausprobieren zu lassen. Auch deshalb hatten über fünfzig Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld der Lesenbühnenszene die Beteiligten in einem offenen Brief zum Einlenken aufgefordert. Unter ihnen die Erwähnten sowie Judith Herrmann, Kirsten Fuchs, Horst Evers und Manfred Maurenbrecher. 

Durch die Konsolidierung Berlins zur Hochglanzmetropole sind inzwischen die meisten dieser Orte verschwunden, mussten Eigentumswohnungen und teuren Boutiquen weichen oder vor lärmempfindlichen Neunachbarn kapitulieren. Auch der Schokoladen hat inzwischen enorme Lärmauflagen bekommen. Außerdem prozessiert der Hauseigentümer seit Jahren gegen Bewohner und Kneipenbetreiber. Die wollen ihm das Gebäude mit Hilfe der Stiftung Edith Maryon abkaufen. Ein Grundstückstausch mit der Stadt Berlin ist im Gespräch.

Nicht allein um ein linkes Wohnprojekt geht es hier, sondern um einen der letzten alternativen Kulturorte Berlins. Eine Stadt, die Millionenbeträge in Großkultur investiert, darunter drei Opernhäuser, sollte sich auch um kreative Keimzellen kümmern. Wenn man stolz ist auf zehn Millionen Touristen, die 2011 nach Berlin gekommen sind, sollte man wissen, was die Attraktivität der Stadt ausmacht. Neben Glitzer und Glamour ist das gewiß vor allem die Lebendigkeit, die an Orten wie dem Schokoladen jederzeit zu spüren ist.

Thilo Bock
Der Autor liest und singt selber seit über zehn Jahren regelmäßig auf Berliner Lesebühnen und verwandten Veranstaltungen. 2011 erschien sein zweiter Roman "Senatsreserve" (Frankfurter Verlagsanstalt).