Börsenvereins-Matinee

Steffen Kopetzky: "Bücher sind Lebenszeit-Batterien"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Warum es sich lohnt, 80 Kilometer zu fahren, um ein vergessenes Buch einzusammeln. Und warum wir über Bücherkisten stöhnen – aber nicht wirklich darauf verzichten können: Autor Steffen Kopetzky über die Mühen eines Umzugs. Ein literarisches Grußwort zur Eröffnungsmatinee im Haus des Buches.

"Ich fühle mich persönlich geehrt, hier zu Ihnen sprechen zu dürfen, sehe jedoch auch meinen Berufsstand, den des Schriftstellers, gewürdigt, zur Umzugsfeierlichkeit des Börsenvereins und seiner Partner in dieses wunderbare neue, alte Gebäude, das „Haus des Buches“, ein literarisches Stück beizutragen.

Eigentlich sollte ich jetzt um diese Uhrzeit zu Hause an meinem Schreibtisch sitzen und an meinem Roman arbeiten, aber die Gelegenheit, über „Bücher“ und „Umzüge“ nachzudenken, war einfach zu verlockend. Kaum war die Sache ausgemacht, ließ ich meinen Helden auf seinem kleinen Kreuzer vor der Küste Albaniens allein und fing sofort an, an meinem Umzugs-Stück zu arbeiten.

Am nächsten Abend hatte ich einen ersten Entwurf und rief meine Frau.

„Was ist das?“

„Das ist die Auswahl der Bücher, die ich mit nach Frankfurt nehmen werde“, sagte ich,

„das heißt, ein paar fehlen noch.“

„Eine Regalwand Bücher nach Frankfurt? Zur Matinee?“

„Ich werde den Börsenverein bitten, seitlich ein paar Vitrinen und dahinter ein großes Regalaufzustellen. Das wäre doch absurd, wenn es im Haus des Buches keine anständigen Regale gäbe.“

Sie sah mich nur auf diese bestimmte Weise lächelnd an, die tiefgründige Zweifel bedeutet, welche ich durch die Erklärung zu zerstreuen suchte, dass die Bücher locker in unseren Wagen passen würden. Auf der Ladefläche könnte ich einige große Kisten unterbringen und den Rest vorne auf dem Beifahrersitz.

„Und wie, denkst du, komme ich nach Frankfurt?“, sagte meine Frau und lächelte wieder.

„Ich denke, du nimmst den Zug. Ist sowieso viel angenehmer. Da kannst du lesen.“

„Und du kannst schreiben. Schreib meinetwegen über die Bücher, aber erspar dem Börsenverein, unsere halbe Bibliothek aufzubauen.“

Aber ich bin ja weder Kritiker, noch Wissenschaftler, die können über Bücher schreiben, bzw. sie tun es halt, ich kann das eigentlich nicht, denn für mich ist ein Buch so viel mehr als sein Inhalt – obwohl es natürlich ohne seinen Inhalt nichts wäre. Es ist noch mehr, wenn es mit anderen Büchern zusammensteht, nicht wahllos natürlich, sondern von einem logischen Band geordnet, das weit über die Ordnung des Alphabets hinausgeht und seine innere Bestimmung aus unserem Leben selbst zieht. Ich weiß, was ich las, als ich zum ersten Mal echten Liebeskummer hatte (Camus, „Der glückliche Tod“) und wie mir die Lektüre nicht nur über alles hinweg half, sondern mich so beschwingte, dass der nächste Kummer ein halbes Jahr, also etwa zwölf Bücher später da und noch viel ärger war.

Bücher sind Begleiter und Lebenszeit-Batterien, da wir sie nicht nur lesen, sondern eben mit ihnen leben - und wir führen sie mit uns, selbst wenn wir insgeheim genau wissen, dass wir siewomöglich niemals mehr aufschlagen werden.

Es ist wirklich wahr – am liebsten hätte ich hier eine riesige Bücherwand aufgebaut und diese für mich sprechen lassen, und es war harte Arbeit und auch von einer dramatischen Wendung begleitet, mich auf die drei Bücher zu beschränken, die ich von Pfaffenhofen an der Ilm nach Frankfurt am Main mitgebracht habe. Aber die drei habe ich.

Das erste stammt von einem Autor namens Otto Flake, 1880 in Metz, also in Lothringen, geboren, der über Paris, Berlin und Zürich (wo er beim Dada mitmachte) schließlich nach Baden-Baden kam und dort blieb, zu den auflagenstärksten Autoren der Weimarer Republik zählte, und ungeheuer produktiv war. In einem Jahr, 1931, veröffentlichte er fünf Bücher. Auf Bitten seines Verlegers Samuel Fischer unterschrieb er 1933 das Treuegelöbnis an Hitler, in der Hoffnung den Verlag durch diese Unterwerfung unter den Diktator schützen zu können. Ein Trugschluss, wie wir wissen. Nach dem Krieg spielte Otto Flake eigentlich keine Rolle mehr, aber 1958, zwei Jahre vor seinem Tod brachte Bertelsmann Gesammelte Werke heraus, die sich binnen acht Monaten eine Million Mal verkauften.

Heute gilt er offiziell als ein vergessener Dichter. Das Buch von ihm ist ein fadengebundenes Taschenbuch, 1917 im S. Fischer Verlag, Berlin, erschienen und – wie das Impressum vermerkt - „gedruckt während der Kriegszeit auf Papier mit Holzschliffzusatz.“ Eine Bemerkung, die in den Büchern jener Tage fast überall zu finden ist, und das Buch damit in jenen tragischen Zusammenhang der langsamen Selbstzerstörung all dessen rückt, das unsere Branche während des 19. und bis spät ins 20. Jahrhundert hinein hervorgebracht hat. Sie wissen natürlich, was ich meine: die mit der massenhaften industriellen Papierproduktion aus Holzschliff einhergehende Säureproblematik. 

Mein Exemplar ist immer noch ganz ordentlich beieinander, allerdings werden mich Buchkundige wegen des Tesafilms verurteilen, mit dem ich das kürzlich flüchtig gewordene Titelblatt wieder angeklebt habe, ich weiß, das darf man nicht, aber ich kann das Buch derzeit einfach nicht zum Buchbinder bringen. Es steht in höchster Intimität links neben meinem Notebook in einer genau 167 Bücher umfassenden Handbibliothek, die ich während der letzten neun Jahre zusammengetragen habe und ich benötige es, um durch das Istanbul des Jahres 1914 zu schlendern, in dem ich – wie vermutlich jeder hier in diesem Saal – noch niemals gewesen bin und wo ich auch nicht hinfahren kann.

Doch wenn ich in diesen leicht angegilbten, in Frakturschrift gesetzten, säurehaltigen Seiten blättere, dann gelingen mir jene unabdingbar notwendigen Entdeckungen, wie sie ein munterer Flaneur macht, Nebensätze, manchmal nur Adjektive, wie Blicke in Wohnungen, in denen irgendjemand vergessen hat, die Vorhänge vorzuziehen und man sehen kann, was es zu Mittag gibt.

Ich bin beim Wikipedia-Studium über einen ganzen anderen Mann, einen, den Flake in Istanbul getroffen und über den er, sehr lobend, geschrieben hat, darauf gestoßen, habe es über das Zentralverzeichnisantiquarischerbücher.com in neunundzwanzig Antiquariaten ausfindig gemacht (die genauen Kriterien meiner Entscheidung erspare ich Ihnen) sogleich bestellt und fünf Tage später von der Post ins Haus gebracht bekommen.

Ich finde es lustig, dass diese Sammlung von Reisefeuilletons den Titel „Das Logbuch“ trägt, nicht nur weil es gewissermaßen wie ein Log-In in die Erlebnisoberfläche am alten osmanischen Bosporus funktioniert, sondern weil das englische „Log“ ursprünglich ja einfach nur „Holzklotz“ bedeutete und das dann später auf Schiffen nach ihm benannte Buch, in dem der Kapitän jedes Detail der Reise einloggen musste, ein viele Kilo schweres Mordstrum war, das gepeicherte Bewusstsein jedes Schiffs, ohne das dieses nicht ablegen und das selbst niemals verloren gehen durfte. 

Ich habe natürlich nicht die geringste Ahnung, was dieses 95 Jahre alte und 440 Gramm schwere Buch schon erlebt hat, auf wessen Nachttischen es lag und in wessen Regalen es stand, ich jedenfalls werde den speziellen Anblick seines mehrfach gebrochenen hellbraunen Rückens, wie er seit der postalischen Lieferung zwischen Werner Otto v. Hentigs „Mein Leben eine Dienstreise“ und Ewald Banses „Beduinenbuch“ steht, niemals vergessen und dennoch sehne ich mich nach dem Tag, an dem ich mit meinem Buch fertig sein werde und die ganze mühsam zusammengetragene Handbibliothek endlich von meinem Schreibtisch umziehen darf und aufgelöst wird.

Kurz nach dem Ende der Schule, zwanzig Jahre ist das her, bin ich selber das erste Mal umgezogen, zu einer Stelle als Aushilfsdeutschlehrer an einem katholischen Mädcheninternat in der Nähe von Paris, damals noch mit dem Zug, einigen Koffern und einer überschaubaren Menge mitgeführter, besonders wichtiger Bücher. Beim zweiten Umzug, der ein halbes Jahr später stattfand, nachdem die geistliche Leitung des Internats zur Überzeugung gekommen war, ich solle lieber studieren, als meine Zeit mit verzogenen Mädchen der französischen Oberschicht zu verschwenden, hatten sich die Bücher mehr als vervierfacht.

Ich hatte nämlich einen nicht mehr ganz jungen Bekannten in der Rue Richer, der von seiner betagten Mutter einen exklusiven Ex-Libris-Prägestempel zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und der sich außerstande sah, seine ganze etwas unaufgeräumte Büchersammlung nun durchzustempeln, wie es sich eigentlich gehört hätte. Aber wenn ich bei ihm war, was häufig geschah, dann liebte er es, mir jedes Mal wieder vier oder fünf schöne Gallimard oder Edition du minuit Ausgaben der besten französischen Autoren herauszusuchen, die er mir unbedingt leihen wollte, und die er dann mit leicht zittriger Hand und in eigentlich kaum erträglicher Langsamkeit mit seinem Ex-Libris-Stempel eindeutig als seine kenntlich machte, um sie mir dann zu überlassen, ohne jemals wieder nach ihnen zu fragen und sie – ich gebe es zu - auch niemals mehr wiederzusehen.

Als ich Paris in einer zugigen Novembernacht mit einem Schlafwagen Richtung München verließ, brauchte ich zwei mittelgroße Koffer nur für die Bücher und ich weiß noch, welches Wohlbehagen mir diese Bücherbeute – trotz aller sonstigen zuhauf aufgetretenen Widrigkeiten meines französischen Abenteuers – machte.

Seitdem bin ich im Ganzen neun Mal umgezogen, also etwa alle zwei Jahre, zuletzt von Hamburg nach Oberbayern und da machte der Haushaltsposten „Bücher“ einen beeindruckenden Anteil an unserem Gesamthausrat aus. Den größten Raum unseres Hauses, den andere vielleicht Wohnzimmer nennen würden, haben wir vollständig mit Regalen ausgekleidet und bezeichnen ihn als Bibliothek. Längst ist ihre Kapazität erschöpft, aber da gibt es ja auch noch den Speicher, den Keller (überall stehen Bücher) und mein in der ehemaligen, im Inneren des Hauses liegenden Garage eingerichtetes Arbeitszimmer, in dem es hundert Regalmeter gibt, die erst zu etwa fünfundvierzig Prozent gefüllt sind.

Was immer es sein mag, wird für mich erst wirklich, wenn ich anfange, Bücher dazu zu besitzen. Sei es das Zen-Buddhistische Meditieren, das Gärtnern oder sogar das sonntägliche Basteln mit den Kindern. Zu allem, um alles herum wachsen mir kleine Sammlungen, Handbibliotheken und literarische Apparate, wobei die verbuchte Realität eigentlich erst bei mehr als drei Büchern anfängt. Hat man zu einem Thema drei oder weniger Bücher, ist es noch nicht ganz Teil meiner Wirklichkeit geworden, die beginnt bei jenem vierten, das oft nur ein Detail beleuchtet und in dieser Absplitterung, die einem Edelstein gleich, das Licht auf die Sache ganz anders bricht, so dass sie auf einmal real wird. 

Aber auch die Bücher selber sind real. Und immer wieder kommt der Punkt, an dem man sie umziehen muss und bei mir ist es noch jedes Mal so gewesen, dass ich mir gesagt habe, dies sei das letzte Mal gewesen, an dem ich die Bücher umgezogen habe, dass ich diesen Satz „Wir haben alles drin. Fehlen nur noch die Bücher“ nie wieder hören möchte, zumindest nicht dann, wenn es sich um meine Die logistisch-physikalische Realität des Bücherumzugs in Deutschland ist ganz enorm, denn jedes Jahr ziehen in Deutschland etwa 3,8 Millionen Haushalte um.

Sicher wird auch der eine oder andere dabei sein, zu dem überhaupt kein Buch gehört und ganz gewiss dürfte es darunter viele Spitzenbuchhaushalte geben, zu denen – wie bei uns daheim und bei der Mehrzahl hier im Saal, wie ich vermute – mehrere Tausend Bücher gehören. Herr Hochgesang von der „Arbeitsgemeinschaft Möbeltransport“, die ihren Sitz übrigens ganz in der Nähe, in Hattersheim, hat und mit dem ich telefonierte, um mir genaue Zahlen zu besorgen - kamen dann schließlich zu der – eher untertriebenen – Schätzung, in jedem Haushalt im Durchschnitt ungefähr einen Regalmeter Bücher anzunehmen, genau die Menge, die in einen Umzugskarton passt und die ungefähr 35 Büchern entspricht, wenn man annimmt, ein Buch habe im Durchschnitt eine Rückenbreite von drei Zentimetern. Bei dieser einfachen Annahme ergibt sich die Menge von 133 Millionen Büchern, die pro Jahr privat umgezogen werden.

Ich habe mit unserer Küchenwaage zehn ganz unterschiedliche Bücher gewogen und ein Durchschnittsgewicht von 570 g ermittelt. Legt man dieses mittlere Gewicht zugrunde und nimmt nun die mittlere Größe von Lastwagen, die man zum Umziehen braucht – nämlich die 16-Tonner, bei denen man von etwa 10 Tonnen Ladegewicht ausgehen kann, dann stellt sich heraus, dass man 7.581 solcher Lastwagen benötigt, die, bei einer durchschnittlichen Länge von acht Metern, einen Lastwagen-Umzug von über 60 Kilometern ergeben würden. Ausschließlich für die Bücher, die in einem Jahr in unserem Land umgezogen werden.

Nimmt man noch die etwa 800 institutionellen Bibliotheken und Büchersammlungen dazu, die jedes Jahr umziehen, so kommt man leichterhand auf das Doppelte. 15.000 Lastwagen, eine 120 Kilometer lange Karawane, von oben bis unten voll mit Büchern! In Wirtschaftsterminologie würde man vermutlich von einer strategischen Partnerschaft zwischen Buch- und Möbeltransportbranche sprechen.

Angesichts dieser 150.000 Tonnen umgezogener Bücher (vom Gewicht der jedes Jahr ausgelieferten neuen Titel ganz zu schweigen) liegt die vielleicht ketzerische Frage nahe, ob es nicht an der Zeit wäre, die Ablösung des materiellen, gedruckten, gebundenen und palettenweise ausgelieferten, des schweren Buchs zu begrü.en, wie es seit vielen Jahrhunderten, schon vor der Erfindung des Buchdrucks, im Zentrum unserer Kultur steht?

Wäre es nicht richtig, die Abschaffung dieser „Holzklötze“ zu fordern, aus denen wir Trost, Leidenschaft, Unterhaltung und vor allem Ideen beziehen, mit deren Gewicht und Sperrigkeit wir uns aber eben auch in der physischen Welt abzumühen haben? Wäre es nicht fantastisch, unsere Bücherregale abzubauen, die Quadratkilometer freigewordener Wände neu zu streichen, um sie wohltuend freizulassen oder mit Kunst zu schmücken, während das, was wir lesen, nur noch dem Namen nach mit Büchern zu tun hat, gewichtslos geworden ist, entweder aus E-Books besteht oder gar nur noch aus losen Dateien, die wir uns aus dem Netz besorgen. Wäre es nicht fantastisch, wenn Bücherumzüge mit ihren Myriaden zu schleppender Bücherkisten künftig der Vergangenheit angehörten? Allein die Treibstoffersparnis wäre enorm!

Ich sage, wir sind zu arm, um auf den Reichtum unserer physischen Buchkultur verzichten zu können, abgesehen von der zwar zutreffenden, aber nicht ganz ernst gemeinten Feststellung, dass der globale Buchbestand ein ungeheurer CO2- Speicher ist, dessen Freisetzung nach erfolgter Digitalisierung eine Katastrophe wäre.

Aber im Ernst: die Buchbranche, zu der ich auch meinen Stand, den der literarischen Autoren, zählen mag, wird ihrer digitalen Herausforderung begegnen, indem sie weiterhin und noch konsequenter gedruckte Individuen entstehen lässt, die uns nicht nur informieren oder unterhalten, sondern uns berühren. Denn ein gedrucktes Buch ist eben mehr als sein Inhalt, auch wenn es ohne Inhalt natürlich gar nicht wäre und sein könnte. Dass es ein eigenes Format hat, etwas wiegt, dass wir es herumschleppen müssen, dass es Platz benötigt, ist alles wahr – aber das ist auch der Grund, warum es uns so zu faszinieren und zu fesseln vermag.

Ich habe mich mit der Auswahl eines Buchs leicht getan, um zu belegen, was ich meine – ich habe es zu Weihnachten geschenkt bekommen und unsere Küchenwaage war nicht mehr in der Lage, es zu wiegen, denn es ist deutlich schwerer als zwei Kilogramm. Es stammt von Neil MacGregor, dem Direktor des Britischen Museums in London, und heißt „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“.

Am Neujahrstag habe ich angefangen, es zu lesen und das meint, es meist etwas ungeschickt auf den Frühstückstisch knallen zu lassen, beim nachmittäglichen Kaffeetrinken einen Blick hineinzuwerfen und es schließlich nach dem Ende des Tagwerks wieder im Schein meiner Nachttischlampe aufzuschlagen und verzaubert zu sein – von der Qualität des matt schimmernden Bilderdrucks, der Erlesenheit des Satzes, der einen immer wieder dazu bringt, noch ein Objekt weiter zu blättern, allesamt Alltagsgegenstände, vom Millionen Jahre alten steinernen Schneidewerkzeug aus Afrika, über ein Papyrus aus dem alten Ägypten bis hin zu einer 2010 im chinesischen Shenzhen produzierten Solarlampe. Es sind Dinge, die die Geschichte der Welt als die eine große Geschichte erzählen, die sie immer schon war.

Das hundert und erste dieser Objekte ist das Buch selbst, gewiss in hoher Auflage verbreitet und von daher alles andere als ein Unikat, aber mit solcher Leidenschaft, Intelligenz und Genauigkeit geplant, geschrieben und hergestellt, dass es mich, seinen Leser, in den Bann zieht, dass es mit mir zu leben beginnt und schließlich meines wird, das bei mir bleiben und einen Ehrenplatz im Regal erhalten wird, auch wenn noch nicht ganz klar ist, in welchem. Und sollte ich jewieder umziehen, wird es mitgeschleppt.

Eigentlich hatte ich geplant, mein Stück an dieser Stelle enden zu lassen, wäre nicht mitten in der Arbeit daran unser Töchterchen von einem ganz schlimmen bronchialen Husten betroffen worden, der den Aufenthalt in einem Krankenhaus nötig machte. Auf der Liste dringend benötigter Dinge stand neben Puppen und Lieblingskuscheltieren auch ein Buch, das dritte, das ich heute Morgen dabei habe – ich durfte es mir freundlicherweise ausleihen. Es handelt von einem kleinen Stoffhasen namens Felix, der seiner Besitzerin immer wieder auf mysteriöse Weise verloren geht, die erstaunlichsten Reisen unternimmt und ihr von unterwegs Postkarten und Briefe schreibt. 

Unsere Kinder lieben es, die gefalteten Schriftstücke aus den eingeklebten Briefumschlägen herauszunehmen, sie aufzufalten, die etwas krickelige Hasenhandschrift zu bewundern und so mit ihm durch die Welt und die Geschichte zu reisen und sich geborgen und zu Hause zu fühlen, in dieser Welt, die so groß und kompliziert ist, dass sich oft auch die Erwachsenen nicht mehr auszukennen scheinen.

Als der schlimme Husten nach ein paar Tagen glücklich überstanden war und ich Frau und Töchterchen abholen durfte, unterlief mir in der glücklichen Stimmung über die Heimkehr der fatale Fehler, ausgerechnet dieses eine Buch zu vergessen, das nun – nach den Tagen, an denen es so viel Freude und Trost gespendet hatte – unverzichtbar geworden war. Das Felixbuch weg – ganz unvorstellbar. Ich versuchte, mich nicht zu sehr über mich selbst zu ärgern, lud die beiden aus und machte mich wieder auf den Weg. Manchmal muss man eben noch einmal hin und zurück 80 Kilometer runterreißen, um ein einziges Buch zu holen, ein ganz bestimmtes, einzigartiges, eines, das es vielleicht hunderttausende Male gibt, das aber dennoch ein unersetzbares Einzelstück ist. 

Ich fand das Buch auch tatsächlich wieder, an dem Tisch, an dem wir es zuletzt gelesen hatten – und es war ein herrlicher, erhebender Anblick und ich bin gerne hingefahren. So wie heute hierher nach Frankfurt."