Börsenvereins-Matinee

Gottfried Honnefelder: "Die Dialektik von Bewahren und Vergessen"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Jedes Projekt enthält ein Versprechen: Vorsteher Gottfried Honnefelder über das neue Haus des Buches in Frankfurt – seine Rede bei der Eröffnungsmatinee im Wortlaut.

"Die Aufgaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels sind geistig schon immer zwischen der Paulskirche und der Frankfurter Buchmesse gelegen, zwischen Geist und Geld. Jetzt aber ist der Börsenverein auch räumlich im Herzen von Frankfurt angekommen – für den Verband der Verleger und Buchhändler Deutschlands ein bedeutendes Ereignis und ein Anlass, der gefeiert werden will. 

Vier Jahre, vier Häuser: 1836 Ritterstraße in Leipzig, 1888 Hospitalstraße / Ecke Gerichtsweg inLeipzig, 1953 Großer Hirschgraben, 2012 Braubachstraße.

„In dieser Zeit beriet man erstmals im kleinen Kreise über einen Neubau. Den entscheidenden Impuls für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem gab die Polizeibehörde mit ihrer Forderung nach einer stärkeren Absicherung gegen Feuergefahr. Eine nähere Prüfung ergab jedoch, dass die erforderlichen baulichen Veränderungen mit finanziellen Aufwendungen verbunden waren, die in keinem Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen standen.“

So war im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels zu lesen - allerdings nicht 2008, als der Umzug im Bauausschuss des Börsenvereins diskutiert wurde, sondern 1996. Was man da lesen konnte, war der historische Bericht des Bibliothekars Hermann Staub über die Neubauplanung des Hauses des Buches in Leipzig, genauer hin über die Planung des Neubaus, der 1888 eröffnet wurde. Es ging – wie man lesen konnte - um die Leipziger Polizeibehörde und es ging um eine Absicherung gegen Feuergefahr, die – ich zitiere - „besonders durch die Verwendung von Gaslicht bei abendlichen Veranstaltungen groß war“. 

Die Bedingungen, die zu unserem neuen Standort in der Braubachstraße führten, waren also 2008nicht anders, als 120 Jahre zuvor. Die Auflagen des Brandschutzes waren massiv, die Investitionen waren hoch und die Entscheidung, was zu tun sei, war von nachhaltiger Wirkung.

Ob 1888 oder 2012: Ein „Haus des Buches“ ist allemal ein Projekt auf die Zukunft hin, auf die Zukunft des Buches. Und es enthält wie jedes Projekt ein Versprechen. Das Haus des Buches in der Braubachstraße: Hier arbeiten Börsenverein, Ausstellungs- und Messe GmbH, Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels GmbH und andere Tochterunternehmungen an der Zukunft für Verlage und Buchhandlungen, für das Medium Buch.

Vor wenigen Tagen wurde in der Presse an etwas erinnert, mit dem wir Buchleute schon immer umgehen, das wir aber nun aus dem Munde der Europäischen Union hören konnten, erstaunlich genug, hätten wir uns das doch schon früher gewünscht. Viviane Reding, EU-Kommissarin sprachnämlich vom „Recht auf Vergessen''.

Neben das Recht auf freie Meinungsäußerung, neben den free flow of information, setzte sie das Recht auf Vergessen und kündigte eine Gesetzesinitiative an, welche den Lesern und Nutzern den Rücken stärken soll gegenüber Google, Facebook und Co. Herzstück dieser Initiative solle ein Rechtsanspruch jedes Internetnutzers sein, einmal bei sozialen Diensten im Netz eingegebene Daten auch wieder löschen lassen zu können.

Der Hintergrund der erstaunlichen Ankündigung war freilich ein anderer, es ging Frau Reding um Datenschutz und um die volle Kontrolle über persönliche Informationen. Frau Reding hat mit dem, was mit „Recht auf Vergessen" gemeint ist, Recht. Wir müssen darüber entscheiden dürfen, wie wir die Freiheit der Meinungsäußerung nutzen wollen, in Form des Rechts sowohl die eigene Meinung mitteilen, als auch den Umkreis ihrer Veröffentlichung festlegen und ihre allgemeine und dauerhafte Verbreitung einschränken zu können. Und dazu gehört auch das Recht darauf, dass die frei gewollte Verbreitung des eigenen Gedankens erhalten bleibt.

Dem „Recht auf Vergessen“ der eigenen Äußerung entspricht das Recht auf die Bewahrung ihrer vom Autor gewollten und autorisierten Verbreitung. Denn Kultur, so sei erinnert, ist die lebendige Präsenz sinnhafter Inhalte. Erst wo solche Inhalte dauerhaften Ausdruck im schriftlichen Artefakt gewinnen, kann die Kultur erfolgreich zu einem Prozess werden, der über Generationen hinwegreicht, der Überlieferung mit Wandel verbindet, der immer neuen Individuen zur zweiten sozialkulturellen Geburt verhilft und sich zu anderen Kulturen hin öffnet.

Auch von dieser Seite her gehören also die zwei Freiheiten bzw. Rechte zusammen: Die Freiheit, die eigene Meinung äußern und den eigenen Gedanken oder das eigene Werk dauerhaft äußern zudürfen ebenso wie die Freiheit, über die Verbreitung dieser Äußerung nach Umfang und Dauer selbst entscheiden zu können. Zum Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gehört das Recht am geistigen Eigentum und das erwähnte, in Anführungszeichen zu setzende „Recht auf Vergessen“, d.h. auf Selbstbestimmung hinsichtlich Umfang und Dauer der Verbreitung der eigenen Meinung.

Die Authentizität des Werks muss ebenso wie seine Zugänglichkeit für alle durch entsprechende kulturelle Rechte gesichert sein. Im Medium des Buches, das das geistige Eigentum seines Urhebers dauerhaft bewahrt, und in der Form des Verlegens, das dieses Gut auf dem Wege der Produktion und der Distribution durch den Markt jedermann zugänglich macht, hat dieser Zusammenhang von Freiheiten und Rechten die für die neuzeitliche Kultur maßgebliche Gestalt gefunden. 

Doch ist das inzwischen – so lautet die heiß diskutierte Frage - nicht alles Vergangenheit? Wird die Zukunft, auf die das neue Haus zugeht, nicht ganz anders aussehen? Haben nicht die neuen technischen Möglichkeiten des digitalen Publizierens das Spektrum verlegerischen Handelns in kürzester Zeit um nicht gekannte Dimensionen erweitert und verändert? Und lassen sie sich nutzen, ohne zugleich die Ziele aufzuheben, für die sie entwickelt worden sind? 

Für den Buchhandel läuft das auf die Frage hinaus, wie sich an der Kultur dauerhafter Präsentation im Medium des (wie immer medial vermittelten) Buches festhalten lässt, ohne an einer Art kulturellen Kältetods durch medial ermöglichte Überfülle zugrunde zu gehen.

Wenn wir vermeiden wollen, dass es uns am Schluss so geht, wie dem Mann in Jorge Luis Borges’ Erzählung vom „unerbittlichen Gedächtnis“, einem Mann, der nicht mehr vergessen und dadurch auch nicht mehr abstrahieren und nicht mehr verallgemeinern kann, brauchen wir Bücher. Bücher, die als kulturelles Instrument der Verbreitung und Bewahrung dienen und die zugleich als selektives Instrument für eine Vermeidung der informationellen Überfülle sorgen. 

Das neue Haus des Buches ist deshalb nicht nur ein Gehäuse für die Fortsetzung der bisherigen Arbeit. Es ist ein Haus, in dem die Wege gefunden, koordiniert und zur Geltung gebracht werden müssen, auf denen der Buchhandel und das Buch ihre Aufgabe als zentrales Medium unserer Kultur – wenn auch auf neuen Wegen – erfüllen können, ein Haus, das der Entstehung geistigen Eigentums erfolgreich dient, seine Verbreitung wirksam betreibt und seine Zugänglichkeit in derDialektik von Bewahren und Vergessen dauerhaft sichert. 

Meine Damen und Herren, liebe Gäste, an dieser Stelle ist mir ein Wort des Dankes sehr wichtig. Bedanken möchte ich mich nicht nur bei den an der Planung und am Bau Beteiligten – stellvertretend nenne ich Prof. Ernst Scheffler, Architekt von Scheffler und Partner – und nicht nur bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Börsenvereinsgruppe, die durch ihr Engagement zum Gelingen dieses Projektes maßgeblich beigetragen haben.

Bedanken möchte ich mich vor allen bei Ihnen, verehrte Frau Oberbürgermeisterin Petra Roth. Der Börsenverein dankt Ihnen persönlich aufs Herzlichste für die umfassende und nachhaltige Unterstützung der Zukunftspläne des Börsenvereins durch die Stadt. Frankfurt am Main und die Buchbranche stehen seit langem in einer starken Verbindung – mit diesem Gebäudekomplex bestätigen wir das in vorzüglicher Weise. 

„Die Zusammensetzung der Versammlung war diesmal insofern eine andere als bisher, als fast ausschließlich nur Prinzipale mittafelten; das jüngere Gehilfenelement, dem man sonst die im Saale herrschende Unruhe in die Schuhe zu schieben pflegte, fehlte fast gänzlich. Der Lärm war diesmal trotzdem größer als je. Man tafelte bereits vier Stunden, als das Gefrorene aufgetragen wurde. „Es war acht geworden“, vermerkte der Chronist. „Selbst Bescheidene schwelgten in Germania-Sekt, die Stimmung hatte ihren Höhepunkt erreicht, man verstand sein eigenes Wort nicht mehr.“ 

Dieses Zitat aus dem Festbericht über die Einweihung des Deutschen Buchhändlerhauses in Leipzig im Jahr 1888 dokumentieren es: Feiern konnten die Verleger und Buchhändler schon immer. Nur heute müssen wir auf „das Gefrorene“ verzichten. Ich wünsche dem Haus eine erfolgreiche Zukunft und uns eine gelungene Einweihung."