Belletristische Novitäten

Glückskinder und Verlorene

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Bei prall gefüllten Programmen ist Vorsortieren angesagt: Ulrich Rüdenauer wirft einen ersten Blick auf die Helden der belletristischen Frühjahrsproduktion. Die aktuellen Themen sind: Fantasien, Familienromane, Erzählungen, Liebesgeschichten und weitere Romane zur Gegenwart.

Große Träume, große Ideen

Unsere Gegenwart ist das Ergebnis von Fantasien, die irgendwann in der Vergangenheit zu blühen begannen. Von Träumen und Ideen nährt sich der Fortschritt, jeder Einzelne hält sich an ihnen fest. Ein Spiegel der Zukunftseuphorie an der Wende zum 20. Jahrhundert und ein Glückskind ist Serge Karrefax, der Held in Tom McCarthys Roman »K« (DVA, 480 S., 24,99 Euro). Technik und Zeitgeschichte sind aufs Engste verknüpft: K ist fasziniert von der neuen Funktechnologie, er erlebt den Ersten Weltkrieg als Funker, er durchlebt exzessiv die 1920er Jahre in London, bis es ihn nach Ägypten verschlägt und ein ungewöhnliches Erlebnis eine neue Wendung bringt.

McCarthy besucht die Vergangenheit, um in ihrem Versprechen und ihrer Zwiespältigkeit die heutige Zeit erkennbar zu machen. Ähnliches beabsichtigt auch Chris­tian Kracht in »Imperium« (KiWi, 256 S., 18,99 Euro): Er lässt einen Aussteiger, Möchtegern-Religionsstifter und größenwahnsinnigen Sonnenanbeter in eine Südsee-Kolonie des wilhelminischen Reichs aufbrechen, um ein eigenes Imperium zu gründen. Kracht bedient sich dabei Formen des historischen Abenteuerromans, Joseph Conrad und Jack London klingen an, und die Utopie seines Helden ist zugleich eine Dystopie des 20. Jahrhunderts.

Eine ganz andere Fantasie entwickelt Felicitas Hoppe in ihrem Roman »Hoppe« (S. Fischer, 320 S., 19,99 Euro): Bereits der Titel deutet an, dass hier mit dem Genre der Autobiografie jongliert wird, aber auf eine so wunderbar kunstvolle, unerwartete Weise, dass Wahrheit und Dichtung nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Zwar wird das Hoppe’sche Alter Ego wie die Autorin in Hameln geboren, aber dann werden die Parallelen auch schon fragwürdig: Von einer Kindheit in Kanada als Schwester eines Eishockeystars, einer Jugend in Australien, einer gescheiterten Laufbahn als Dirigentin, geschiedenen Ehen und Reisen um die ganze Welt erzählt das Buch. In der Literatur kann man viele Leben führen, und keines ist unwahrscheinlicher als jedes andere.

Mehr Fantasien
➤ Franzobel: Was die Männer treiben, wenn die Frauen im Badezimmer sind. Zsolnay, 500 S., 24,90 Euro
➤ Franziska Gerstenberg: Spiel mit ihr. Schöffling & Co., 264 S., 19,95 Euro
➤ Mohammed Hanif: Alice Bhattis Himmelfahrt. A1, 280 S., 19,90 Euro
➤ Benjamin Lebert: Im Winter dein Herz. Hoffmann und Campe, 160 S., 18,99 Euro
➤ Hilary Mantel: Brüder. DuMont,
1 000 S., 22,99 Euro
➤ Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische. Piper, 224 S., 16,99 Euro
➤ Erika Pluhar: Im Schatten der Zeit. Residenz, 272 S., 21,90 Euro
➤ Michael Ondaatje: Katzentisch. Hanser, 304 S., 19,90 Euro
➤ Patrick Roth: Sunrise. Wallstein,
507 S., 24,90 Euro
➤ Oliver Storz: Als wir Gangster waren. Graf, 256 S., 18 Euro

Generationenbande

Familienromane haben zuweilen die Eigenschaft, ausschweifend zu sein: Verzweigungen im Stammbaum muss nachgegangen, viele Figuren und Generationen müssen in ein Beziehungsnetz eingeflochten werden, um ein umfassendes Bild entstehen zu lassen. 1 600 Seiten braucht Péter Nádas in seinem ebenso voluminösen wie großen Roman, um zwei Familiengeschichten zu erzählen, die mit der deutschen und der ungarischen ­Historie verknüpft sind. Als »Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts« wurde das Werk in Ungarn gehandelt: »Parallelgeschichten« (Rowohlt, 39,95 Euro) erzählt tatsächlich viele Geschichten neben- und übereinander – ein Buch, das das europäische 20. Jahrhundert in sich trägt.

Verglichen mit dem Panorama, das Nádas entwickelt, erscheint Anna Katharina Hahns Setting wie ein Mikrokosmos: »Am Schwarzen Berg« (Suhrkamp, 240 S., 22,95 Euro) spielt in Stuttgart, beschrieben wird die Heimkehr eines Verlorenen: Der an der Liebe und Seele erkrankte Peter kehrt in sein Elternhaus zurück. Emil Bub, Gymnasiallehrer und Nachbar, war für Peter in dessen Kindheit eine prägende Gestalt – er hat ihm die Literatur und die Musik erschlossen, Eigensinn und Verweigerung gelehrt. Der Versuch, Peter wieder auf eine Lebensbahn zu bringen, wird für Eltern und Nachbarn zu einer fast unlösbaren Aufgabe, die mit grundsätzlichen Fragen konfrontiert, die Vergangenheit berührt und das schier Unmögliche herausfordert: den Gefühlen und Verzweiflungen eines anderen Menschen nahezukommen.

Marion Brasch versucht, sich in »Ab jetzt ist Ruhe« (S. Fischer, 400 S., 19,99 Euro) ihrer »fabelhaften Familie« literarisch anzunähern: Braschs Vater war stellvertretender Kulturminister der DDR, ihr ältes­ter Bruder Thomas Dramatiker. Ihre bewegte und bewegende Geschichte handelt von Verlusten, Abenteuern und einer Befreiung, deren Ausdruck dieses Buch ist.

Noch mehr Familienromane
➤ John Banville: Unendlichkeiten. KiWi, 288 S., 19,99 Euro
➤ Jessica Durlacher: Der Sohn. Diogenes, 416 S., 22,90 Euro
➤ Janet Frame: Wenn Eulen schrein. C. H. Beck, 304 S., 19,95 Euro
➤ Hanna Lemke: Geschwisterkinder. Kunstmann, 120 S., 14,95 Euro
➤ Annette Pehnt: Chronik der Nähe. Piper, 224 S., 17,99 Euro
➤ Zeruya Shalev: Für den Rest des Lebens. Berlin Verlag, 528 S., 22,90 Euro

Geschichten hinterm Hühnerzaun

Dass Erzählungen hierzulande längst kein Schattendasein mehr führen, das verdankt sich auch Alice Munro, die im Frühjahr mit einem 1974 erschienenen, aber erstmals übersetzten Buch vertreten ist. Die 13 Texte in »Was ich dir schon immer sagen wollte« (Dörlemann, 380 S., 23,90 Euro) zeigen Munros Meisterschaft: Das Geheimnis ihrer Stories besteht darin, dass es in ihnen nichts Heimliches gibt, aber doch Dinge, die nicht erzählt werden dürfen – und gleichwohl verborgen im Text stehen und sich im Kopf des Lesers entfalten. Munro wurde des Öfteren mit Tschechow verglichen – ganz vermessen ist der Vergleich nicht.

Auch Ralf Rothmann hat sich als klassischer Short-Story-Erzähler einen Namen gemacht. In der Titelerzählung »Shakespeares Hühner« (Suhrkamp, 205 S., 22,95 Euro) etwa lässt er seine Heldin Fritzi über Shakespeare nachdenken. Sie muss sich eingestehen, dass verglichen mit den Sorgen und Nöten der finsteren Shakes­pear’schen Gestalten, wir doch nur Hühner seien. »Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram – Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld – und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.« Aber Rothmann schafft es eben doch, das Wahre aufzuspüren. Er verzaubert das Simple: Seine Sprache ist einfach, bleibt aber haften. Seine Geschichten sind alltäglich, aber voll kleiner Wunder. Die Figuren sind keine großen Helden, aber sie gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Als Leser kommt man ihnen sehr nahe, schaut in eine Wohnung, in ein Leben, erfährt ausschnitthaft Intimes, ohne dass sie an den Betrachter verraten werden. Rothmanns Realismus ist von unglaublicher Dichte – und doch so durchlässig, dass man immer so etwas wie Sehnsucht spüren kann. 

Weitere Erzählungen
➤ Monika Helfer: Die Bar im Freien. Nachrichten aus der Unwahrscheinlich-keit der Welt. Deuticke, 250 S., 19,90 Euro
➤ Chaim Noll: Kolja. Erzählungen aus Israel. Verbrecher, 300 S., 24 Euro
➤ Philipp Schönthaler: Nach oben ist das Leben offen. Matthes & Seitz, 180 S., 17,90 Euro
➤ Tor Ulven: Knochenklang. Droschl,
150 S., 19 Euro

Beziehungskisten

Was passiert mit der Liebe und der Leidenschaft, wenn der Alltag die romantischen Gefühle langsam zerbröseln lässt? Karl Ove Knausgard versucht es in »Lieben« (Luchterhand, 576 S., 22,99 Euro) herauszufinden. Ein modernes Paar sieht sich dabei mit ganz altmodischen Problemen konfrontiert: Wie lässt sich das Bedürfnis nach Nähe mit dem Verlangen nach Freiheit in Verbindung bringen, wie kann man eine Balance finden zwischen Lebensfantasien und den profanen Ansprüchen der Wirklichkeit? Knaus­gard ließ im Frühjahr mit »Sterben« aufhorchen – »Lieben« ist nun der zweite Teil eines auf sechs Bände konzipierten Romanprojekts mit autobiografischen Zügen.

»Wenn Kunst nicht von Liebe handelt, dann handelt sie von gar nichts«, meint die ostdeutsche Fotografin Ute, die nach der Wende mit einem amerikanischen Maler und dem niederländischen Erzähler im brandenburgischen Schloss Freywalde an einer Hommage an Lyonel Feininger arbeitet – dem »Feininger-Projekt« (Weissbooks, 100 S., 16,80 Euro). Unweigerlich kommen sie sich in der Einsamkeit näher – und Autor Jan Brokken lässt die drei sich schon bald in widersprüchliche Gefühle verstricken.
Ungewöhnlich in Form und Inhalt ist Mark Z. Danielewskis Roman »Only Revolutions« (Tropen, 365 S., 24,95 Euro), der von dem Liebespaar Sam und Hailey handelt. Die beiden sind 16 Jahre alt – und zwar über 200 Jahre hinweg, in denen sie durch die amerikanische Geschichte reisen. Aus Sam wie aus Haleys Perspektive kann das Buch von vorn und von hinten gelesen werden – erst die Wahrnehmungen der beiden Liebenden zusammen ergeben ein Bild.

Mehr Liebesgeschichten
➤ Kerstin Hensel: Federspiel. Luchterhand, 280 S., 19,99 Euro
➤ Javier Marías: Die sterblich Verliebten. S. Fischer, 400 S., 19,99 Euro
➤ Norbert Zähringer: Bis zum Ende der Welt. Rowohlt, 352 S., 22,95 Euro

Den Augenblick meistern

Jahrelang gab es Gerüchte über einen in Berliner Politikkreisen spielenden Roman von Rainald Goetz. Dieses Buch ist nie erschienen – stattdessen veröffentlicht der Kultautor nun einen Roman über einen erfolgreichen Manager, der einem weltweit agierenden Unternehmen vorsteht, langsam ausgebootet wird und im Lauf der nuller Jahre in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abgrund blickt. »Johann Holtrop« (Suhrkamp, 200 S., 19,95 Euro) ist eine Erzählung, die direkt auf unsere Gegenwart verweist: auf die egomanischen Erfolgsfantasien von Machern und die schier undurchschaubaren Strukturen der Macht, die eine eigene Dynamik entwickeln. Die Gegenwart als Zirkus präsentiert uns Lars Brandt (»Alles Zirkus«, Hanser, 224 S., 18,90 Euro): Ehepaare wie Trixi und Walter entwickeln im Lauf der Jahre Rollen und Routinen; er verdingt sich in einer Werbeagentur, sie möchte Dokumentarfilme über vergessene Maler drehen. Er ist für die Dinge des Lebens zuständig, sie für bohemistischen Leichtsinn. Walter aber spürt die Last nicht nur dieses Ungleichgewichts, sondern auch einer immer mehr aus den Fugen geratenden Welt.

In »Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen« (S. Fischer, 398 S., 19,99 Euro) wird die Gegenwart zu einem fantastischen Raum: Renate Meißner arbeitet bei einer Versicherungsgesellschaft, sie steigt auf und zieht einen großen Auftrag an Land. Aber dann kehrt sich das Spiel, in dem sie mitgemischt hat, gegen sie. Um herauszufinden, was schiefläuft, fährt sie nach Russland und kommt mit der Auftraggeberin des Großprojekts in Kontakt, die aufs Haar ihrer verschwundenen Großmutter gleicht. Aber was hier in Wirklichkeit vor sich geht, lässt Thomas von Steinaecker immer mehr in einer Überblendung von Realität und Fantasie undeutlich werden. Er setzt ein »Paranoia-Spiel« in Gang und lässt dabei die Grenzen des Romans fließend werden, indem er Fotos, Tabellen und Zeichnungen in seine Konstruktion einbaut. 

Weitere Romane zur Gegenwart
➤ Paul Auster: Sunset Park. Rowohlt, 320 S.,
19,95 Euro
➤ Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte. Wagenbach, 144 S., 16,90 Euro
➤ Helon Habila: Öl auf Wasser. Wunderhorn,
240 S., 24,80 Euro
➤ Helmut Kuhn: Gehwegschäden. FVA, 360 S., 22,90 Euro
➤ Dea Loher: Bugatti taucht auf. Wallstein, 208 S., 19,90 Euro
➤ Christos Tsiolkas: Nur eine Ohrfeige. Klett-Cotta, 510 S., 24,95 Euro