Sachbuch-Novitäten 2012

Politisch korrekt? Von wegen!

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Ein Hoch auf die Streitkultur: Die neuen Sachbücher, die im Frühjahr erscheinen, bürsten gängige Meinungengegen den Strich. Die stärksten Thesen und Themen im Überblick: Neue Debattenbücher, Historische Analysen, Arabellion und Eurosion.

Hier steckt Zündstoff drin

Wenn Broder brodelt, bekommen wir etwas zu lesen. Mit gleich zwei Titeln meldet sich der multimediale Meinungsmacher zu Wort. In »Vergesst Ausch­witz!« (Knaus) beklagt er, dass der große Zivilisationsbruch längst zum argumentativen Kleingeld verkommen sei. Der wohlfeile Gestus des Gedenkens diene nicht selten als Deckung für moderne Antizionisten und Antisemiten, die sich ein geistiges Palästinensertuch um den Kopf gebunden hätten.

Allerhand neue deutsche Eigenarten spießt der Polemiker in seinem Quadriga-Buch »Denk ich an Deutschland mit Bedacht« auf – ein »liebevoller« Reisebericht durch das Land der umfassenden Bürger­betreuung: »Früher haben die Deutschen der Welt den Krieg erklärt, heute erklären sie ihr den Frieden«, witzelt der Börne-Preisträger. Da würde Andrew Feinstein allerdings widersprechen. In seinem »Schwarzbuch Waffenhandel« (Hoffmann und Campe) über Top-Secret-Milliardengeschäfte zielt er auch auf Deutschland – immerhin drittgrößter Waffenexporteur der Welt, lukrativ beteiligt an der Aufrüs­tung von Diktaturen.

Gute, aber moralisch anfechtbare Geschäfte werden auch mit billigem Ackerland gemacht, vor allem in Afrika. Hier würden die Investments in Zeiten der Finanzkrise gedeihen, so Stefano Liberti in »Landraub – Reisen ins Reich des neuen Kolonialismus« (Rotbuch). Auch mit der deutschen Landwirtschaft ist etwas nicht in Ordnung: Sie kassiert mehr Staatsmilliarden als die maroden Banken. Die »mafiösen« Geschäftspraktiken der Futtermittel-Multis, Großmäster und Gülle-Vergifter deckt Richard Rickelmann in »Tödliche Ernte« (Econ) auf. Fragwürdige Konsequenzen hat aber auch der alltägliche »Öko-Fimmel«, den Alexander Neubacher in seinem gleichnamigen DVA-Titel beschreibt: Für Biobenzin werden Regenwälder gerodet, und aus den Gullys dringt Gestank, weil alle Wasser sparen. Was richten wir an beim Retten der Welt? Die größten Rettungsenergien mobilisiert der Klimawandel, der womöglich doch nicht stattfindet. Fritz Vahrenholt und Sebastian Lüning belegen in »Die kalte Sonne« (Hoffmann und Campe) ihre umstrittenen Thesen gegen den Mainstream der Erd­erwärmungstheorien.

Provozieren wird Dieter E. Zimmers »Klarstellung« in Sachen Erblichkeit (»Ist Intelligenz erb­lich?«, Rowohlt). Dass es etwa bei der Musikalität enorme Begabungsunterschiede gibt, bestreitet wohl niemand – aber bei der Intelligenz darf es aus Gründen der politischen Korrektheit keine genetischen Vorgaben geben. Wer das Gegenteil behauptet, gilt schnell als Biologist und Sozialdarwinist. Der ewige Streit um nature or nurture wird munter fortgeführt, etwa von Cordelia Fine, die einmal mehr die biologischen Geschlechtsunterschiede abschaffen möchte.

Ihr Buch »Die Geschlechter-Lüge« (Klett-Cotta) ist eine Replik auf die populären Bestseller über »weibliche« und »männliche« Gehirne. In der Krise der Männlichkeit meldet sich Schriftsteller Ralf Bönt zu Wort (»Das entehrte Geschlecht«, Pantheon).
Männer müssen funktionieren, und Bönt fordert deshalb endlich das Recht auf ein karrierefreies Leben. Ein ebenso »männlicher« wie »entehrter« Job ist der des Jägers. »Welt«-Redakteur und Hobby-Waidmann Eckhard Fuhr bekennt sich offensiv zur »Jagdlust« (Quadriga) und erläutert, warum es »schön, gut und vernünftig« ist, auf die Pirsch zu gehen – bevor die Bundeswehr zum Einsatz gegen die Wildschwein-Armada angefordert werden muss.

Neue Debattenbücher (Auswahl)
➤ Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! Knaus, 240 S., 16,99 Euro
➤ Ralf Bönt: Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann. Pantheon, 160 S., 12,99 Euro
➤ Andrew Feinstein: Schwarzbuch Waffenhandel. Hoffmann und Campe, 750 S., 26,99 Euro
➤ Cordelia Fine: Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau. Klett-Cotta, 472 S., 21,95 Euro
➤ Eckhard Fuhr: Jagdlust. Quadriga,
208 S., 18 Euro
➤ Stefano Liberti: Landraub. Reisen ins Reich des neuen Kolonialismus. Rotbuch, 256 S., 19,95 Euro
➤ Alexander Neubacher: Öko-Fimmel. DVA, 300 S., 19,99 Euro
➤ Richard Rickelmann: Tödliche Ernte. Wie uns das Agrar- und Lebensmittelkartell vergiftet. Econ,
240 S., 18 Euro
➤ Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung. Rowohlt,
320 S., 19,95 Euro
➤ Fritz Vahrenholt, Sebastan Lüning: Die kalte Sonne. Hoffmann und Campe,
416 S., 24,99 Euro 

Leidens-Geschichte

Die Vergangenheit ist ein Nichts. Alles verweht und weggewischt – und doch ist dieses Nichts ein Behältnis unermesslichen menschlichen Leids. Man denke an das Inferno, das der Machtspieler Napoleon anrichtete, als er die aus 20 Nationen rekrutierten Soldaten seiner Grande Armée in die russischen Weiten schickte. Adam Zamoyskis episches Werk »1812« vergegenwärtigt unter Verwendung zahlreicher Augenzeugenberichte den Feldzug des Grauens auf allen Ebenen: politische Interessenlagen, diplomatische Kraftproben, Alltag der Gewaltmärsche, Horror der Erfrierungen und des Hungers bis zu Szenen des Kannibalismus. Es ist eine Histoire totale des ersten »totalen« Krieges, der die moderne Geschichte nicht weniger prägte als die Französische Revolution – und dank Zamoyskis anschaulichem, elegantem Stil eine mitreißende Lektüre.

Aus Fußsoldatenperspektive schildert auch Historiker Daniel Furrer in »Soldatenleben« (Schöningh) jenen Feldzug. Von 675 000 Mann kehrten nur 80 000 zurück. Das 20. Jahrhundert hatte dann allerdings noch ganz andere Dimensionen des Schreckens zu bieten. In den Jahren 1958 bis 1962 verschuldete die chinesische Führung eine Hungersnot, der 36 Millionen Menschen zum Opfer fielen: Maos Politik des »Großen Sprungs nach vorn« wurde zum Sprung in den Abgrund. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und groteske Projekte der Industrialisierung führten zu desaströsen Ernteausfällen. Yang Jisheng hat den Opfern, darunter sein eigener Vater, ein 1000-seitiges Werk über die »Hungerkatastrophe« als »Grabstein – Mùbei« (S. Fischer) gewidmet. Mit der vielgestaltigen Historie des Reichs der Mitte befasst sich Kai Vogelsangs »Geschichte Chinas« (Reclam) – eine sehr lesbare Aufbereitung der Jahrtausende.
Nicht ganz so lang währt die Geschichte des »Kongo« (Suhrkamp), die David van Reybrouck auf 900 Seiten darbietet: eine erzählerische Reise ins Herz diverser Finsternisse – von der kolonialen Gewaltherrschaft des belgischen Königs Leopold II. über die 30-jährige Mobutu-Diktatur bis hin zu gegenwärtigen Rohstoff-Fehden.

Aus ungewohnter Perspektive stellt Christian Ingrao die Geschichte des nationalsozialistischen Massenmords dar: als Veranstaltung einer jungen, intelligenten, kultivierten Schicht: »Hitlers Elite« (Propyläen). Denn die entscheidenden Akteure der Shoah waren nicht dumpfe Schergen und Gescheiterte, sondern karriere­bewusste Akademiker.  Große Kulturgeschichte hat Stephen Greenblatts neues Buch über »Die Geburt der Renaissance« (Siedler) zu bieten – hier erfährt man, wie die Welt modern wurde. Monumentale Medizingeschichte schreibt der Onkologe Siddharta Mukherjee. »Der König aller Krankheiten« (DuMont) ist die jahrtausendealte Geschichte der Krebskrankheit und des Kampfes gegen sie. Weit gespannte Mediengeschichte liest man in Lothar Müllers »Weiße Magie« – Papier als das Material, aus dem das Geld, die ­Akten, die Zeitungen und die Bücher (noch immer) sind. Aktuelle Gefühlsgeschichte bereitet Chris­tian Saehrendt auf, in »Blamage! Geschichte der Peinlichkeit« (Bloomsbury). Fehltritte, Fettnäpfchen, Fremdschämen – während manchen heute nichts mehr peinlich ist, produzieren andere ganz neue Formen der moralisierenden Obacht.

Historische Analysen (Auswahl)
➤ Daniel Furrer: Soldatenleben. Napoleons Russlandfeldzug 1812. Schöningh, 352 S., 34,90 Euro
➤ Stephen Greenblatt: Die Geburt der Renaissance. Wie die Welt modern wurde. Siedler, 400 S., 24,99 Euro
➤ Jan T. Gross: Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen. Suhrkamp, 360 S., 24,95 Euro
➤ Christian Ingrao: Hitlers Elite. Propyläen, 496 S., 24,99 Euro
➤ Yang Jisheng: Grabstein – Mùbei. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958 – 1962.
S. Fischer, 1 000 S., 28 Euro
➤ Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. Hanser, 368 S., 24,90 Euro
➤ Siddharta Mukherjee: Der König aller Krankheiten. Krebs – Eine Biografie. DuMont, 760 S., 24 Euro
➤ David van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte. Suhrkamp, 900 S.,
29,95 Euro
➤ Christian Saehrendt: Blamage! Geschichte der Peinlichkeit. Bloomsbury, 200 S., 14,90 Euro
➤ Kai Vogelsang: Die Geschichte Chinas. Reclam, 700 S., 39,95 Euro
➤ Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug gegen Rußland. C. H. Beck,
720 S., 29,95 Euro

Arabischer Flächenbrand

Die gesellschaftlichen Umbrüche im arabischen Raum sowie die fortgesetzte Finanz-, Schulden- und Euro-Krise – das sind die politisch-ökonomischen Großthemen. Bei aller Erleichterung über die Beseitigung diktatorisch-feudaler Herrschaftsstrukturen in den nordafrikanischen Ländern gibt es große Sorge vor Instabilität und einem daraus resultierenden Aufschwung des Islamismus.
Findet nur ein Austausch der Eliten oder eine durchgreifende Demokratisierung statt? Wie sollen die schwächelnden Ökonomien den Massen der Unzufriedenen Arbeit und soziale Aufstiegsmöglichkeiten bieten? Marcel Pott bemüht sich in »Aufstand der Araber« (KiWi) um Antworten auf diese Fragen und beschreibt den »steinigen Weg« zur islamischen Demokratie.

Arabellion (Auswahl)
➤ Monika Wael Ghonim: Revolution 2.0. Wie wir mit der ägyptischen Revolution die Welt verändern. Econ, 300 S., 16,99 Euro
➤ Marcel Pott: Aufstand der Araber. Kiepenheuer & Witsch, 304 S., 19,99 Euro
➤ Eugene Rogan: Die Araber. Eine Geschichte von Unterdrückung und Aufbruch. Propyläen, 600 S., 26,99 Euro
➤ Samar Yazbek: Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der Syrischen Revolution. Nagel & Kimche, 144 S.,
14,90 Euro

Einen Insiderbericht aus Ägypten bietet »Revolution 2.0« (Econ), das Buch des Internet-Aktivisten Wael Ghonim. Er war einer der wichtigsten Organisatoren des Massenprotests und feiert die sozialen Medien als Beschleuniger demokratischer Bewegungen.
Bedrückender ist Samar Yazbeks »Schrei nach Freiheit« (Nagel & Kimche) – ein Report aus dem Inneren der syrischen Revolution. Die Journalistin ist bei ihren Recherchen selbst ins Visier des Geheimdiensts geraten, wurde verhaftet, misshandelt und flüchtete, als sie erfuhr, dass ihr Name auf den Todeslisten steht.
Als Hintergrundwerk empfiehlt sich Eugene Rogans »Die Araber« (Propyläen). Rogan erzählt eine Geschichte der Unterdrückung, die mit der Eroberung Nordafrikas durch das Osmanische Reich einsetzt und immer wieder Auflehnung hervorruft.

Von Schuldnern und Schulden

Eine Linie vom Arabischen Frühling zu den weltweiten Banken-Protesten zieht Wolfgang Kraushaar in »Der Aufruhr der Ausgebildeten« (Hamburger Edition). Lässt sich die destruktive Dynamik der internationalen Finanzmärkte noch eindämmen? Rainer Hank zeichnet in »Die Pleiterepublik« (Blessing) die Entwicklung vom Rechtsstaat über den Fürsorgestaat hin zum paternalistischen Staat – und stellt fest, dass in der Finanzkrise zudem die politischen Gestaltungsspielräume durch Sparzwänge schwinden. Das Gefühl allgemeiner Ohnmacht werde so immer größer.
Dagegen richtet sich das Standardwerk der neuen sozialen Bewegungen: David Graebers »Schulden – Die ersten 5 000 Jahre« (Klett-Cotta). Das Buch wird international gefeiert, gerade weil es die Analyse der Schuldenkrise nicht den Ökonomen überlässt. Graeber schafft eine ungewöhnliche Verbindung von Anthropologie und Kapitalismuskritik; er weist nach, dass Aufstände und Revolutionen seit der Antike mit dem Zerreißen der Schuldbelege begannen. Es geht um den Zusammenhang von Schulden und (metaphysischer) Schuld – noch das Wort »Erlösung« verrät den ökonomischen Ursprung. Und darum, wie Schulden den Mächtigen seit je als Mittel der Versklavung dienen. Die moralisierende Entgegensetzung von Schuldnern und Gläubigern macht das Buch zur Kampfschrift – und man wartet gespannt auf den Chor der Fachleute, die Graeber Simplifizierung nachzuweisen versuchen und Kredit und Zins als Anfang blühender Kultur darzustellen wissen.

Eurosion (Auswahl)
➤ Christian Felber: Retten wir den Euro. Deuticke, 144 S., 10 Euro
➤ David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Klett-Cotta, 600 S.,
26,95 Euro
➤ Rainer Hank: Die Pleite-Republik. Blessing, 250 S., 18,95 Euro
➤ Wolfgang Kraushaar: Der Aufruhr der Ausgebildeten. Hamburger Edition,
140 S., 12 Euro

Text: Wolfgang Schneider