Meinung

Das Alphabet der Neuzeit

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Was aus einem Kinderreim geworden ist. Von Jochen Jung.

A, E, I, O, U – und raus bist du. Früher einer der Abzählreime unserer Kindheit, heute: A steht für Apps, E für E-Book, I für iPad, O für online und U für unglaublich, welche Möglichkeiten sich da innerhalb weniger Jahre ergeben haben. A, E, I, O, U und drin bist du. Und damit sind all die Spezialprogramme noch gar nicht dabei, nein, hier geht es nur um das Nötigste, das, was der informierte Zeitgenosse wirklich braucht, um im Leben nicht als völliger Trottel dazustehen.

Halt! Da hören wir doch schon wieder so einen Unterton heraus, so einen überheblichen Unterton, wie wir ihn von den Leuten kennen, die einem mit geradezu missionarischem Eifer von dem Vergnügen, nein, von der Freude berichten, im Großen Meyer, Band 17, zu blättern und wie man da nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt und dass einem das doch entschieden mehr gibt, als wenn man auf der Stelle wissen kann, welches Wetter gerade in Nairobi herrscht, wo man noch nie war und, helf Gott, auch nie hin möchte.
Vom Hölzchen aufs Stöckchen. Ja, die Holzzeit ist eindeutig vorüber, auch wenn Bücher immer noch aus gewachsenen Bäumen gemacht werden. Und das mit dem Haptischen lässt auch irgendwie nach, mal abgesehen davon, dass so ein iPad sich ja gar nicht so schlecht anfühlt.

Werden wir sachlich: Der Punkt ist die Verfügbarkeit nahezu unendlich vieler Daten und Informationen, und zwar auf der Stelle (wo diese Stelle auch immer ist), unkompliziert (das heißt nur wenig komplizierter als Blättern) und absolut verlässlich (jedenfalls so verlässlich wie halt irgendwas auf dieser Welt sein kann).
Aber es ist dasselbe wie mit Ihrem Küchenherd. Wissen Sie eigentlich, was der alles kann? Vielmehr, was der könnte, wenn Sie sich nur je die Gebrauchsanweisung durchgelesen und die gewonnenen Erkenntnisse mit Ihrer Lebenseinteilung abgeglichen hätten. Sie haben das aber nicht, und Sie werden das auch bei A, E, I, O und U nicht tun. Sie werden ein Herrscher schlafender Möglichkeiten bleiben, und Sie werden sich dabei großartig fühlen. Wie der mit dem Großen Meyer.

Das ist das eine; das andere ist, dass all diese Herrlichkeiten mehr oder weniger umsonst sein sollen. Dazu Folgendes: In Cesena, das die meisten nur als Cesenatico kennen, gibt es ein wahres Weltwunder zu bestaunen: die Biblioteca Malatestiana. Das ist ein wunderbarer stiller Raum aus dem 15. Jahrhundert, ungefähr so groß wie ein kleiner Hörsaal, mit 29 Sitzreihen und von großen Fenstern beleuchtet.
Dort nahm der Lesewillige Platz, wenn er etwas lesen wollte, aber: die Bücher, allesamt handgeschriebene Codices, waren gleichsam gegen Diebstahl versichert, nämlich an leichten Ketten festgemacht. Man musste also zum Buch gehen, auf einen ganz bestimmten Platz, um zu lesen, was man lesen wollte. Das Buch (die Information etc.) kam eben nicht jederzeit zu einem, sondern man ging zum Buch, das Wissen war an einen Ort gebunden, von dem man es nur im Kopf davontragen konnte.

Das ist kein Modell für heute, natürlich nicht. Aber eine hübsche Metapher ist es doch für den Respekt vor den Mühen, die es gekostet hat, Wissen zu fixieren und anderen zur Verfügung zu stellen. Und das entgegen der Maxime: Alles Erdenkliche Ist Ohnehin Umsonst.