Gastspiel

Die Literatur, nicht Facebook ist es gewesen

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Wie wir uns die Revolte in den arabischen Ländern erlesen können. Von Stefan Weidner.

Das Jahr 2011 ist Vergangenheit, doch der Aufruhr in den arabischen Straßen hält unvermindert an. In den Medien erscheint davon nur die Spitze des Eisbergs. Am spannendsten ist die Entwicklung in den Ländern, die ihre Diktatoren gestürzt haben und nun im schwierigen Wandlungsprozess sind. In dieser Umbruchsituation bietet ausgerechnet die gute alte Tante Literatur die beste Orientierung. Im Hype um die neuen Medien ist untergegangen, dass sie bei den Ereignissen eine entscheidende Rolle spielte und spielt. Wir im Westen, scheint es, haben ihr das schon gar nicht mehr zugetraut und, eilfertige Apostaten, die wir sind, lieber an die neuen, falschen Götter mit dem Namen Facebook und Twitter geglaubt.

Aber wer einen Monat lang nichts anderes tut, als revolutionäre Tweets zu wälzen, begreift viel weniger von den Vorgängen, als der Leser der Erzählungen in dem Band »Taxi« des ägyptischen Schriftstellers Chalid al-Chamissi (Lenos-Verlag); oder als derjenige, der die zornigen Kolum­nen Alaa al-Aswanis kennt (»Im Land Ägypten«, S. Fischer); oder gar den blutigen Bericht der Syrerin Samar Yazbek: »Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution« (Nagel & Kimche).

Al-Chamissi und al-Aswani waren schon im vorrevolutionären Ägypten echte Bestseller und hielten mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg. Al-Aswanis Roman »Der Jakubijan Bau« (Lenos) wurde mit Adel Imam, dem berühmtesten ägyptischen Schauspieler verfilmt und hatte mehr Zuschauer, als es in Ägypten Facebook-User gibt.

Und wer neugierig geworden ist, kann freilich noch tiefer gehen: Besonders die arabischen Dichter haben immer schon die Funken der Revolte blitzen lassen. Die Anthologie »Die Farbe der Ferne« (C. H. Beck) gibt einen repräsentativen Überblick; oder man liest gleich zu den »Verwandlungen eines Liebenden« (S. Fischer) aus der Feder von Adonis, des größten arabischen Dichters, der letzten August in der Paulskirche den Goethe-Preis erhielt.

Schon Anfang der 70er Jahre verkündete er: »Ich lebe in der Sehnsucht, im Feuer in der Revolution, im Zauber ihres schöpferischen Gifts.« Adonis wurde für seine zurückhaltenden Kommentare zum Aufstand in Syrien stark kritisiert. Aber er ist einer der geistigen Wegbereiter der Revolte, wie ein im Herbst bei S. Fischer erscheinender Essayband von ihm beweist. Wer die Philosophie hinter den Umbrüchen entdecken will, dem sei die »Kritik der arabischen Vernunft« von Mohammed Abed al-Jabri empfohlen (Perlenverlag, Berlin).

Paradoxerweise ist gerade in Zeiten des rapiden Umbruchs die Langsamkeit der Literatur und des Buchs ein Vorteil. Wir erinnern uns an Nietzsches Wort vom »Pathos der Distanz«: Erst der zeitliche Abstand gewährt den Überblick. Die Zeitung von gestern ist alt, der Tweet von vor einer Stunde noch älter. Die Literatur aber reift nach wie ein guter Wein. Während draußen die Hektik ausbricht, holen wir ihn aus dem Keller, kosten ihn und wissen, anders als die medialen Zeitgeistritter, was wirklich in der Welt los ist.