Kommentar

Mythen über Berlin

9. November 2011
von Börsenblatt
Der größte österreichische Publikumsverlag in privater Hand, Ueberreuter, verlässt Wien – und geht nach Berlin, um von dort aus den deutschen Markt zu erobern. "Muss man nach Berlin?", fragt sich Börsenblatt-Redakteur Stefan Hauck.
Die Hauptstadt gilt als hip. Wie immer ihr das gelungen ist – sie hat sich einen Ruf erworben, der Realität, Mythen und Sehnsüchte geschickt miteinander verknüpft. Der gern mal an die Tage des pulsierenden Berlin in den Roaring Twenties erinnert: chaotisch, verrückt, aber ungemein kreativ. Der verwoben ist mit der Alles-ist-möglich-Aufbruchstimmung der Nachwendezeit und ungewöhnlichen Neugründungen im digitalen Bereich. "Wired" kürte jüngst Berlin zu "Europas heißester Start-up-Hauptstadt". Solch eine Aura ist geldwert. Und zieht auch Verlage an. Suhrkamp ist schon hingezogen, KiWi feierte sein Jubiläum dort, Hanser will eine Dependance haben und jetzt möchte auch Ueberreuter an die Spree, einer unter zahllosen Verlagen. Wegen der "lebendigen, innovativen Buch-, Kultur- und Familienszene".

Da werden Vorstellungen von überschäumend guten Ideen wach, die beim Latte-macchiato-Schlürfen leichterdings geboren werden. Muss man nach Berlin? Ist Dabeisein alles? Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Da allerdings viele aus der Buchbranche schon in Berlin sind, tritt die selbsterfüllende Prophezeiung ein: Wo sich viele Autoren, Illustratoren, Lektoren usw. treffen, können in der Tat tolle Ideen entstehen. Denn trotz moderner Internetkommunikation – theoretisch könnten die meisten Kreativen ja fast überall arbeiten – ist die persönliche Begegnung eben doch unersetzbar, der Dialog, die Mimik, das sichtbare Scribbeln von Ideen. Das macht das Buchgewerbe trotz Hauptstadt-Hype wieder beruhigend menschlich. Es muss übrigens auch nicht immer Berlin sein: Herder zieht mit seinem Kinderbuch nach München.

Lesen Sie auch den Beitrag "Ueberreuters Umbaupläne" im kommenden Börsenblatt Heft 45 (S. 18/19).