Friedenspreisträger Boualem Sansal in Leipzig

Geschichte tut weh

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Bei seinem Gespräch mit dem Journalisten Joseph Haniman in Leipzig verriet der Friedenspreisträger den autobiografischen Hintergrund seines jüngsten, noch unübersetzten Romans.
Der erste Eindruck: Er ist immer noch ganz entspannt. Dabei liegen strapaziöse Tage hinter Boualem Sansal. An diesem Abend war Leipzig dran, wo der Börsenverein und die Stadtväter den Usus etabliert haben, den Friedenspreisträger immer am Dienstag nach seiner Auszeichnung in den ehrwürdigen Festsaal des Alten Rathauses einzuladen. In Leipzigs berückend altdeutschem Ambiente von 1557 saß Boualem Sansal, der mit seiner zum Pferdeschwanz gebundenen grauen Mähne aussieht wie ein weiser Apatsche, und lächelte den bis auf den letzten Platz gefüllten Reihen zu. Ein Mann ohne jede Spur von Dünkel, konzentriert, leidenschaftlich, freundlich, klug, mutig, ein freier Kopf.

Neben ihm hatten der Schauspieler Adnan Maral und der Journalist Joseph Haniman Platz genommen. Maral las aus dem Roman „Das Dorf des Deutschen“ vor und strapazierte das Zeitbudget über Gebühr, jedoch kam das ja vielleicht dem Buch zugute; denn so hatte jeder Zuhörer Gelegenheit zu merken, wie gekonnt der Autor Sansal dem Lauf der Geschichte seine eigenen Geschichten abgewinnt.

Es ist der Vorzug der Literatur, in ihre Stoffe die großen Fragen von historischer Schuld und Verantwortung verweben zu können, ohne rechthaberische Antworten geben zu müssen, einfach, weil sie Charaktere vorführt, keine moralischen Katechismus. „Das Dorf des Deutschen“ erzählt vom SS-Mann Hans Schiller, der 1945 abtaucht und sich an Algeriens Unabhängigkeitskrieg beteiligt, in einem algerischen Dorf die schöne Tochter des Scheichs heiratet und so der Strafverfolgung seiner NS-Verbrechen entkommt. Dafür sehen sich dann unvermutet die algerischen Söhne mit der Schuld des deutschen Vaters konfrontiert.

Die Geschichte wälzt sich über auf die nächste Generation. Damit ist man im Zentrum von Boualem Sansals Weltbetrachtung. Geschichte als Ereignisgeschichte, die Abfolge der Fakten, wie sie Historiker und Journalisten notieren, interessiere ihn nicht, erklärte er in Leipzig im Gespräch mit dem Moderator Joseph Hanimann. Sansal hat im Blick, wie die Historie wirkt, wie sie die Nachgeborenen betrifft und unsere Gegenwart mit ihren Katastrophen verschattet.

Gar manches in den mittlerweile sechs Romanen des ehemaligen Ingenieurs und Ministerialbeamten Sansal trägt autobiografische Züge. In besonderer Weise gilt das für sein jüngstes, noch nicht ins Deutsche übersetztes Buch „Rue Darwin“. Über Sansals ersten acht Lebensjahren, das verriet er in Leipzig, liegt ein Rätsel. Woher stammt die Familie? War seine Mutter seine wahre Mutter? Er hat es sie nie zu fragen gewagt und statt dessen nach ihrem Tod, in einem Akt „innerer Psychoanalyse“, seinen Ursprüngen nachgeforscht. Herausgekommen ist eine aberwitzige Bordellgeschichte, die der Autor in „Rue Darwin“ auf provokante Weise mit Algeriens Landesgeschichte verschränkt. In Leipzig hat er diese Story zum ersten Mal vor einem größeren deutschen Publikum ausgebreitet.