Novitäten

Mutmaßungen über »Ground Zero«

26. August 2011
von Börsenblatt
Zehn Jahre nach "9/11": Der Angriff auf Amerika fordert Historiker und Journalisten bis heute heraus. Neue Analysen und Augenzeugenberichte.
Nach »Pearl Harbour« und Vietnam waren die Anschläge vom 11. September 2001 ein weiteres traumatisches Erlebnis für eine Nation, die sich für unverwundbar und unbesiegbar hielt. Kulturell, rechtlich und militärisch betrachtet, war es vermutlich der bisher folgenschwerste Terroranschlag der Geschichte. Auch aus deutscher Perspektive: Knapp zehn Jahre nach den Anschlägen hat das Bundeskabinett vergangene Woche die Verlängerung der Antiterrorgesetze um weitere vier Jahre beschlossen; und ein Ende des Afghanistan-Einsatzes ist noch nicht in Sicht.
Historiker und Journalisten tun sich ein Jahrzehnt nach »9/11« immer noch schwer mit der Einordnung. Für Elmar Theveßen, stellvertretender Chefredakteur des ZDF und Terrorismusexperte des Senders, ist jener 11. September »Der Tag, der die Welt veränderte« – so der Untertitel seiner Analyse »Nine Eleven« (Ullstein, 346 S., 19,90 Euro). Theveßens Sicht auf die Dinge deckt sich mit derjenigen der meis­ten Beobachter – geht aber an einem Punkt über andere Darstellungen hinaus. Die Terrorzellen unter Führung von Mohammed Atta hätten die Türme des World Trade Center auch deshalb gewählt, um den gesamten New ­Yorker Finanzdis­trikt rund um die Wall Street zu treffen, so Theveßen. Ziel sei es auch gewesen, auf den internationalen Finanzmärkten Turbulenzen auszulösen. Auch wenn es gelang, eine finanzielle Katastrophe zu verhindern, sind die langfristigen ökonomischen Folgen desaströs, wie Theveßen schreibt. Der ZDF-Journalist zitiert unter anderen den Wirtschaftsnobelpreisträger Jo­seph Stiglitz, der allein die Kosten für den Irakkrieg auf drei Billionen Dollar geschätzt hat. Die Kriege und Antiterror-Operationen im Gefolge des 11. September sind mitursächlich für die immense Schuldenlast der USA – für die jüngste Anhebung der Schuldengrenze, die angekündigten Sparziele und die Verunsicherung der Anleger.
Theveßen antwortet mit dem Untertitel seines Buchs auf ein Werk, das im Frühjahr bei Schöningh erschienen ist: »9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte« (169 S., 16,90 Euro). Das junge Historiker-Team um die Herausgeber Michael Butter, Birte Christ und Patrick Keller kommt darin zu dem Schluss, dass die Anschläge von New York und Washington kein Einschnitt waren, sondern nur Entwicklungen, die sich bereits Jahre zuvor abzeichneten, verstärkt und sichtbar gemacht hätten. In zehn Kapiteln zu Themen wie Weltmacht, Recht, Religion, Patriotismus und Verschwörung weisen sie Kontinuitäten zwischen der Zeit vor und nach dem 11. September nach.
Ganz anders ist der Ansatz von Mathias Bröckers und Christian C. Walther in »11.9. – zehn Jahre danach« (Westend, 320 S., 16,99 Euro). Die beiden Journalisten melden erhebliche Zweifel an der offiziellen Version der Anschläge an – vor allem an dem »9/11«-Bericht der Regierungskommis­sion. Zu viele Ungereimtheiten, sich widersprechende Zeugenaus­sagen, keine hieb- und stichfesten (Bild-)Beweise. Ein Beispiel: Das von der US-Regierung präsentierte Video, in dem Osama Bin Laden sich zu den Anschlägen bekennt, enthält falsche Koranzitate, die dem »echten« Al-Qaida-Chef nie über die Lippen gekommen wären. Bröckers und Walther kommen im Untertitel ihres Buchs daher zu dem Fazit: »Der Einsturz eines Lügengebäudes«.
Ein facettenreiches Meinungsspektrum versammelt der bei Barbara Budrich Publishers erschienene englischsprachige Band »After 9/11: Leading Political Thinkers about the World, the U. S. and Themselves. 17 Conversations« (219 S., 19,90 Euro). 17 Wissenschaftler und Regierungsmitarbeiter – unter ihnen der frühere Präsidenten­berater Zbigniew Brzezinski, der Linguist Noam Chomsky und der Historiker Michael Walzer – beantworten jeweils einen gleichlautenden Fragebogen zur Welt nach »9/11«. In ihren Statements geben sie eine vielschichtige Einschätzung der politischen und persönlichen Veränderungen.
Neben die historisch-politischen Bilanzen der Anschläge treten persönliche und literarische Zeugnisse – so etwa Herbert Bauernebels Augenzeugenbericht »Und die Luft war voller Asche. 9/11 – Der Tag, der mein Leben veränderte« (Lübbe, 256 S., 18,99 Euro). Kein Pressebericht, kein Fernsehbild kann es mit der Unmittelbarkeit und Intensität aufnehmen, mit der Bauernebel die Ereignisse schildert. Als das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center einschlägt, sitzt der »News«-Korrespondent Bauernebel wenige hundert Meter entfernt vom Schauplatz an seinem Schreibtisch – und eilt sofort dorthin.
Das Reporter-Fieber packt auch Alexander Osang, der knapp zwei Jahre vor dem 11. September 2001 für den »Spiegel« nach New York gekommen war. Osang setzt sich über alle Regeln der Vernunft hinweg und rennt über die bereits gesperrte Brooklyn Bridge, um an den Anschlagsort heranzukommen. Doch die Staub- und Aschewolke der einstürzenden Türme schlägt ihn in die Flucht. Es folgen bange Stunden in einem Keller – ohne Kontakt zu seiner Frau Anja Reich. Das Buch »Wo warst du? Ein Septembertag in New York« (Piper, 272 S., 19,99 Euro) ist ein Gemeinschaftswerk des Ehepaars. In wechselnder Perspektive erzählen Osang und Reich nicht nur die Katas­trophe, sondern auch die Vorgeschichte: die Ankunft in New York, die frustrierende Wohnungssuche, die ersten Kontakte zu den Nachbarn.
Auf literarische Weise nähert sich Catherine Bruton dem Thema – in ihrem Jugendbuch »Der Nine-Eleven-Junge« (Baumhaus, 395 S., 14,99 Euro). Sie erzählt darin die Geschichte des kleinen Ben, der mit zwei Jahren seinen Vater bei den Anschlägen auf das World Trade Center verlor, und nun auf »Terroristenjagd« ist – auch wenn dabei manchmal die Fantasie mit ihm durchgeht.
Der Untergang des World Trade Center war auch ein architek­tonisches Debakel. Niemals hätte sich der Schöpfer der Türme, Minoru Yamasaki, vorstellen können, dass sie bei einem Brand verglühen. Das Ende des Wahrzeichens und die Entwürfe für den neu bebauten »Ground Zero« zeigt der reich bebilderte, im Turm-Format produzierte Band »World Trade Center« aus dem White Star Verlag (208 S., 24,95 Euro).