Deutscher Buchpreis 2011

Natürliche Auslese

26. Februar 2015
von Börsenblatt
Es geht animalisch zu in diesem Herbst. Eine halbe Arche Noah kommt zusammen, wenn man die Romane der Longlist auf tierisches Begleitpersonal untersucht – der Literaturkritiker Wolfgang Schneider hat es für uns getan.

Allen voran schreitet ein Löwe – das metaphysische Wappentier in Sibylle Lewitscharoffs "Blumenberg".
Dieser Löwe ist der Sendbote aus einer anderen Welt, ein Stellvertreter des Unnennbaren und Göttlichen. Und beinahe ein Wunder ist es, wie beschreibungsmächtig die Schriftstellerin der Schimäre Präsenz verleiht. Der Löwe liegt als "Zuversichtsgenerator" in der Nähe, wenn der Philosoph die Nächte durch diktiert, trottet aber auch – unsichtbar für gewöhnliche Kommilitonen des Lebens – bei den Vorlesungen durch den Mittelgang. Dort sitzt die ebenso zarte wie hochfahrende Studentin Isa, die unerbittlich in ihren Professor verliebt ist. Das motiviert freilich noch nicht den brutalen Selbstmord, mit dem sie nicht nur Familie und Freunde, sondern auch den Leser überrascht. "Blumenberg" ist die sprachgewaltige und gewitzte Hommage auf einen Geisteswissenschaftler, der kein "philologischer Raspelwerker" war, sondern ein "Weltbenenner", der eine Pranke hatte.

Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe", ein perfekt gestaltetes und artenreich illustriertes Buch, hat das biologische Wissen in sich aufgesogen – um damit die alternde Lehrerin Inge Lohmark auszustatten. Darwin’sche Theorien der Anpassung und Auslese werden ihr vom Unterrichtsgegenstand zur exis­tenziellen Bedrohung. Denn in der Kleinstadt im vorpommerschen Hinterland fehlen Kinder, bald soll ihre Schule geschlossen werden. Die Prophezeiung der "blühenden Landschaften« im Osten hat sich bewahrheitet: In der verfallenden Stadt wuchert die Pflanzenwelt bereits aus allen Ritzen und Rissen. Der biologische Blick ist im Roman so ungewohnt wie faszinierend – auch wenn Lohmarks Weltanschauung hart auf die Probe gestellt wird.

Volker Harry Altwassers "Letzte Fischer" ist ein allegorisierender Gesellschaftsroman auf hoher See. Auf dem Walfänger "Rimbaud" mischt sich die junge Luise in die Rituale einer überkommenen Männerwelt. Unterdessen ist ihr Stiefvater Robert Rösch auf dem Trawler "Saudade" vor den Piratenküsten von Somalia unterwegs, auf der Suche nach Seefledermäusen – bizarren, hochgiftigen Plattfischen, für deren Häute sehr viel Geld bezahlt wird.

"Wenn wir Tiere wären" – schon der Titel des neuen Genazino-Romans klingt wie ein Stoßseufzer. Die Hauptfigur kommt diesmal nicht als Schuh-Tester oder freischaffender Apokalyptiker daher, sondern als Architekt, was aber nie wirklich beglaubigt wird. Er ist einfach eine weitere Variation des Genazino-Ichs, das sich schlecht in die Verhältnisse fügt und dessen Sehnsucht zwischen Utopie und Frührente wechselt: ein resignierter Mann, zugleich Saboteur des Alltags, gelähmt von Welt- und Selbstekel und dabei doch erstaunlich selbstzufrieden. Allerdings wirkt dieser Roman nur noch wie ein fader Aufguss der vertrauten Themen und Motive. Statt "gedehnten Blicken" liefert der Flaneur beliebige Mikro-Beobachtungen: "Da sah ich etwas Sensationelles: Die Amsel sang und schiss gleichzeitig." Ein andermal ist es eine schlafende Ente oder ein Korn­weihen-Männchen, das nach der Paarung sanft entschwebt, was den kreatürlichen Neid des Architekten auslöst. Kurz: Beim Menschen gibt es zu viel Pfusch am Bau.

"Kraniche. Reiher. Störche. Dieses Faible für Vögel." Hauptfigur von Antje Rávic Strubels Roman "Sturz der Tage in die Nacht" ist die Ornithologin Ines, eine Frau um die Vierzig, die auf einer schwedischen Vogelschutzinsel ihrer Arbeit nachgeht. Ein junger Mann namens Erik reist an, eine Sommerliebe scheint ihren Lauf zu nehmen. Zugleich aber betritt eine zwielichtige Erscheinung die Romanbühne: Rainer Feldberg, ein Schnüffler und Sendbote einer unguten Vergangenheit. Stasi-Komplott und Inzestdrama: Strubel hat einen geschichts- und intrigenträchtigen Inselroman geschrieben, in dem das Unwahrscheinlichste Ereignis wird. Merke: "Eine Naturschutzinsel schützt nicht vor den Gefahren der menschlichen Natur."

In die Igel und Maulwürfe, die unter die Walze des Fortschritts gerieten, fühlt sich Peter Kurzeck ein. "Vorabend", der monumentale fünfte Band seiner autobiografischen Chronik, ist ein großes Panorama des Wandels und eine unerschöpfliche Quelle kulturgeschichtlicher Details. Am Ende erübrigt sich die Frage, ob man denn derart überbordend von all den Einkaufscenter– oder Baumarkteröffnungen, Baumfällungen und Teichzuschüttungen rund um Staufenberg und Lollar unterrichtet werden wollte. Denn hier ist zu lesen, warum deutsche Dörfer und Kleinstädte heute so aussehen, wie sie aussehen. Es ist ein Buch voller Melancholie und Komik; geradezu überlebensgroß das Porträt des Schwagers, der nach Feierabend zum Daniel Düsentrieb wird: ein Tüftler und technisches Genie, dem keine Reparatur zu "schwör" ist und dem deshalb die Lollarer ihre kaputten Maschinen aufdrängen. Die kurzen, oft unvollständigen Sätze zwischen Diktierprosa und innerem Monolog sind für Freunde des elaborierten Satzbaus allerdings gewöhnungsbedürftig.  

Zum Trio der Tausendseiter gehört auch Jan Brandts ehrgeiziges Ostfriesland-Epos "Gegen die Welt" – nach Gerhard Henschel eine weitere Erforschung der Provinzjugend in den 70ern und 80ern, unter besonderer Berücksichtigung der Popkultur. Zum archivalischen Realismus kommt hier aber eine paranoid-­verschwörerische Handlung: Drogistensohn Daniel Kuper gegen ein ganzes Dorf. Ein Debüt, das aufs Ganze geht.

Noch umfangreicher ist Navid Kermanis "Dein Name". Der Autor hat sich die Lizenz genommen, einmal alles aufzuschreiben, was ihn so umtreibt zwischen Leben und Tod, Liebe und Politik, Glaube und Gewalt, Deutschland und Iran. Ein stilis­tischer Ehrgeiz ist erst einmal nicht zu erkennen, und auch nicht, was das Ganze mit Literatur zu tun haben könnte. Aber vielleicht machen überschwängliche Kritiken ja noch Appetit auf den Wälzer.

Eine Reihe der Longlist-Romane hat sich historischen Themen verschrieben. Astrid Rosenfeld hat Rollen für Filme wie "Knallhart" gecas­tet, bevor sie nun selbst die Regie übernommen hat: in ihrem Überraschungsdebüt "Adams Erbe", das sich mit erstaunlicher Stoffbeherrschung in die Zeit von Judenverfolgung und Warschauer Ghetto hineinfabuliert. Rosenfeld ist eine geborene Erzählerin, auch wenn sie das selbst erst kürzlich gemerkt hat.

Klaus Modick dagegen weiß es seit Längerem. Der Oldenburger gehört zu den produktivsten deutschen Gegenwartsauto­ren. Vor Jahrzehnten promovierte er über Lion Feuchtwanger, zu dessen komfortablem Exil in Pacific Palisades er in "Sunset" zurückkehrt. Es geht um Leben und Literatur – und, noch heikler, um das Leben von der Literatur.

In Eugen Ruges spätem Debüt "In Zeiten des abnehmenden Lichts" kehrt 1952 eine Emigrantin aus Mexiko in die DDR zurück. Die gelernte Kunststopferin soll Direktorin am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft in Berlin werden: "die Partei" macht’s möglich. Leider aber ist ihr Förderer soeben in die Mühlen des Spätstalinismus geraten. Das ist nur eine der Geschichten, die in diesem Familienroman über drei Generationen die Entwicklung des Kommunismus in Deutschland erzählen. Geschichten, die sich spiegeln, miteinander korrespondieren, einander widersprechen. Und das Eigentliche oft in den Zwischenräumen belassen. Ein bedeutendes Buch, gesättigt mit Erfahrung, dabei angenehm unprätentiös.

Alex Capus’ Liebesroman "Léon und Louise" wandert durch ein halbes Jahrhundert, durch Krieg und Frieden. Leichthändige Raffinesse ist das Markenzeichen dieses verschmitzt konventionellen Erzählers; so gelingen ihm eindrückliche Paris-Impressionen aus der Zeit der deutschen Besatzung – ein bisschen Gestapo, ein bisschen Résistance. Eine schöne Ironie besteht darin, dass Léon als Polizeichemiker auf die Bearbeitung von ehelichen Giftmorden spezialisiert ist: wilde Geschichten von Betrug, Habgier und der "Blödheit des Herzens". Die denkbare dramatische Lösung des Dreieckskonflikts zwischen Ehefrau und Geliebter wird gewissermaßen auf die Dienststunden verschoben. "Léon und Louise" genießt man wie einen dieser französischen Filme, die Melancholie und Heiterkeit, Romantik und Realismus souverän in der Schwebe halten.

Geschichtsschreibung in eigener Sache betreibt Michael Buselmeier mit "Wunsiedel". Er kehrt mit seinem Alter Ego Moritz Schoppe zurück in den Sommer 1964, an eine fränkische Freilichtbühne, wo der junge Mann eine Liebhaber-Rolle übernehmen soll. Eitelkeiten des provinziellen Schauspielbetriebs, in dem die Akteure Dienst nach Vorschrift machen, kraftspendende Jean-Paul-Lektüren und die spröde Poesie einer eher grauen Landschaft – das wirkt in diesem kleinen, aber feinen Roman zusammen.

Die soziale Verwahrlosung im Sozialstaat DDR hat sich Angelika Klüssendorf in "Das Mädchen" vorgenommen. Kindheit im Rohzustand: Suff und Sadismus der Eltern bestimmen das Leben des Mädchens und ihres kleinen Bruders Alex. Ihre Spiele haben die Destruktivität und die selbstschädigenden Tendenzen aufgenommen – wenn sie versuchen, Autofahrer zu ärgern, indem sie haarscharf vor ihnen über die Straße rennen, was nicht immer gut geht. Bald kommt noch ein kleiner Bruder dazu. "Kaum beginnt Elvis zu brüllen, hat die Mutter in der Regel dringende Dinge zu erledigen und verlässt die Wohnung." So rückt das Mädchen ersatzweise in die Mutterrolle ein. Später lernt sie Heime und Arrestzellen kennen – aber sie ist ein starker Charakter, der sich durch Schmutz und Gemeinheit den Weg ans Licht bahnt, und gerade in dieser Widerstandskraft besteht die Faszination.

Auch in Jens Steiners Debütroman ist das Zuhause kein "warmer Hasenstollen". Werner und Emmi sind sich selbst überlassen, ihre Mutter Lili schlägt sich durch als Kellnerin, wechselt oft die Orte und die Liebhaber, tanzt die Nächte durch und kriegt den Tag nicht auf die Reihe. Die Sprache von "Hasenleben" ist knapp und bildkräftig: zerklüftete Seelen, die nicht psychologisiert, sondern in ihrer Rätselhaftigkeit und Unzugänglichkeit belassen werden.

Alleinerziehende Mütter und vaterlose Familien – damit ist die Forderung nach mehr Gegenwart in der Gegenwartsliteratur noch nicht erfüllt. Mehr Businessclass, mehr Medien, mehr Politik, mehr Krieg! So schallt es den Autoren entgegen. Und als Antwort kommt dann so etwas wie Doris Knechts Roman "Gruber geht" – über einen schnöseligen Jung­manager mit Porsche und Designerwohnung, einen frauenverschleißenden, markenbewuss­ten Unsympathen à la "Ame­rican Psycho", der holzhammermäßig mit­tels einer Krebskrankheit geläutert wird – bis hin zum Prenzlauerberg-kompatiblen Kinderwunsch. Ein Roman als szenebewusste Kolumnistinnenfantasie, die Sprache so aufgebretzelt und möchtegerncool wie möglich.

Auf höherem Niveau müht sich Thomas Melle in seinem Debütroman "Sickster". Auch hier Agenturtypen, Red-Bull-Trinker, Pornobrillenträger und ein Stil, der angestrengt versucht, sich auf der Höhe des neurowissenschaftlichen Diskurses und des Berliner Clubbings zu bewegen.

Marlene Streeruwitz’ "Schmerzmacherin." handelt von einem ominösen Sicherheitsservice und liest sich über weite Strecken auch sehr mysteriös und undurchsichtig. Ludwig Laher schildert in "Verfahren", wie eine junge Kosovo-Serbin nach traumatischen Gewalterfahrungen in die Mühlen des österreichischen Asylrechts gerät: eher eine Reportage als ein Roman.

Wer jetzt schon wieder genug hat von den literarischen Vermessungen der krisengeschüttelten Gegenwart, greift zu Esther Kinsky. "Banatsko" erzählt von einer dörflichen Anderswelt weit hinten in Osteuropa, von Akkordeonspielern, Melonenwächtern und Grabschmuckhändlern, von den Farben des Himmels und vom Lauschen auf die Sprache der Dinge, vom "Staubland" der ungarischen Ebene und von einem Mann, der eines windigen Regentages im Apfelbaum verschwindet – gewiss das poetischste Buch auf der Liste.

Ist es schon eine Kränkung, dass die neuen Romane von Martin Walser, Helmut Krausser oder Joachim Lottmann "übersehen" wurden? Es geht nicht nur ihnen so: War 2010 noch die hohe Zahl der Autoren mit Migrationshintergrund auf der Longlist bemerkenswert, so fällt diesmal eher auf, dass Feridun Zaimoglu und leider auch Sherko Fatah mit ihren neuen Romanen außen vor geblieben sind.   

Favoritin ist die bereits vielfach ausgezeichnete Lewitscharoff. Ihr Triumph würde angesichts des Status als Liebling des Feuilletons niemanden überraschen. Andererseits wäre nach Kathrin Schmidt und Melinda Nadj Abonji um der Geschlechtergerechtigkeit willen auch mal wieder ein Mann dran. Kurzecks "Vor­abend" ist ein "Roman des Jahres" – aber beim breiteren Publikum, das mit dem Preis erreicht werden soll, wäre bei der Lektüre wohl bald Feierabend. Lassen wir uns also überraschen, welcher Roman in diesem Jahr den "Schoßgebeten" von Charlotte Roche ein paar Leser abspenstig macht.

Hier geht's zur boersenblatt.net-Bildergalerie mit allen Longlist-Autoren und Büchern.