Novitäten

Die Herbst-Novitäten im Sachbuch

22. Juni 2011
von Börsenblatt
Gesellschaftskritik mit Glanz und Gloria: Vergangenheitsbewältigung und aktuelle Debatten prägen die Sachbuchprogramme im kommenden Herbst. Und der Alte Fritz hat Jubiläum – auch in der Buchwelt. Wolfgang Schneider stellt aktuelle Herbstnovitäten vor.

Die aktuellen Sachbuchnovitäten beschäftigen sich mit folgenden Themen:

Preußische Fassadenwirtschaft
Einspruch! Soziale Analysen
Bluthunde und Nachkriegskinder

Preußische Fassadenwirtschaft

Königlich muten die Sachbuchprogramme dieses Herbstes an. Friedrich der Große ist groß im Kommen; sein 300. Geburtstag am 24. Januar 2012 verschafft darüber hinaus diversen preußischen Themen Konjunktur. Der Monarch fasziniert Biografen wie Tillmann Bendikowski und Jürgen Luh durch seine Spannungen und Widersprüche: Abschaffung der Folter und Verachtung der Frömmelei einerseits, risikofreudige Kriegspolitik und skrupellose Diplomatie andererseits; ein schillernder, aufklärerisch gestimmter Intellektueller, der die besten Köpfe seiner Zeit umwarb und doch die deutsche Kultur seiner Zeit verkannte; ein Liebhaber der Künste mit dem Habitus des Soldaten, ein Asket, der sich nach Größe verzehrte.
Versuchte Nähe ist die Devise vieler Bücher: »Unser König« lautet der Titel von Jens Biskys Friedrich-Lesebuch bei Rowohlt. Tom Goeller will dem »Alten Fritz« (Hoffmann und Campe) dreifach auf die Spur kommen: als Monarch, Mythos, vor allem aber auch als Mensch; ältere Staatsmänner unserer Zeit werden dabei um Gastkommentare zu ihrem persönlichen Friedrich-Verhältnis gebeten. Ulrich Schlie widmet sich Friedrichs Ringen um die Vorherrschaft in Deutschland, dem preußisch-habsburgischen »Duell« (Propyläen) der Mächte, das mit dem Raub Schlesiens begann. Einer spannenden Konstellation und zwei Wegen der Aufklärung geht Jürgen Overhoff nach, wenn er »Friedrich  den Großen und George Washington« bei Klett-Cotta im Doppelporträt darstellt.  
Einem eher vernachlässig­ten Aspekt hingegen widmet sich Hans-Jürgen Bömelburg in »Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen« (Kröner): dem Verhältnis des ersten Dieners seines Staates zu Polen. Der König war maßgeblich am zeitweiligen Verschwinden des Nachbarlandes durch die Erste polnische Teilung beteiligt; preußische Gebietszuwächse gingen auf Kosten Polens (später umgekehrt), und die preußisch-polnische Mischkultur wird schon durch die Tatsache deutlich, dass 40 Prozent der preußischen Bevölkerung polnisch sprachen.
Aufklärung über das Frauenbild Friedrichs verspricht Karin Feuerstein-Praßner in »Ich bleibe zurück wie eine Gefangene«. Die königliche Ehe mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern blieb kinder- und glücklos, weit über die übliche Fassadenwirtschaft arrangierter Monarchen-Ehen hinaus. Der misogyne König verbannte seine Frau nach Schloss Schönhausen und wollte die von ihm Gedemütigte nur zu offiziellen Anlässen sehen.
Die Jugendzeit behandelt »Der Kampf um Kronprinz Friedrich« (Landt) von Johannes Bronisch: ein an den Quellen gearbeiteter Essay, der die Geschichte einer Verschwörung zwischen Politik und Aufklärungsphilosophie rekonstruiert – der junge Friedrich zwischen Wolff und Voltaire. Ebenfalls im Landt-Verlag bemüht sich Georg Friedrich Prinz von Preußen, heutiger Chef des Hauses Hohenzollern, um ein familiär frisches Verhältnis zur preußischen Tradition: »Lieber Onkel Fritz. Brief an meine Vorfahren«.

Friedrich der Große
➤ Tillmann Bendikowski: Friedrich
der Große. C. Bertelsmann, September,
320 S., 19,99 Euro
➤ Hans-Jürgen Bömelburg: Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen.
Kröner, November, 320 S., 19,90 Euro
➤ Johannes Bronisch: Der Kampf um Kronprinz Friedrich. Wolff gegen Voltaire. Landt, September, 120 S.,
19,90 Euro
➤ Karin Feuerstein-Praßner: »Ich bleibe zurück wie eine Gefangene«. Elisabeth Christine und Friedrich der Große.
Pustet, September, 120 S., 12,90 Euro
➤ Tom Goeller: Der Alte Fritz. Mensch, Monarch, Mythos. Hoffmann und Campe, Oktober, 320 S., 21 Euro
➤ Norbert Leithold: Friedrich II. Ein kulturgeschichtliches Panorama. Eichborn, Oktober 400 S., 32 Euro
➤ Jürgen Luh: Der Große. Friedrich II. von Preußen. Siedler, September, 250 S., 19,99 Euro
➤ Jürgen Overhoff: Friedrich der Große und George Washington. Klett-Cotta, September, 290 S., 22,95 Euro
➤ Ulrich Schlie: Das Duell. Der Kampf zwischen Habsburg und Preußen. Propyläen, Oktober, 256 S., 22, 99 Euro  ( Auswahl)

 

Einspruch! Soziale Analysen

Die Herbstnovitäten präsentieren eine Saison der Kontrapunkte – der Einsprüche in aktuelle Debatten, der Widersprüche gegen den Common Sense. Dass die menschliche Geschichte nichts als eine Abfolge von Gewalt und Kriegen sei, widerlegt Steven Pinker, der Star der amerikanischen Evolutionsbiologie, in seiner »Neuen Geschichte der Menschheit« (S. Fischer). Es ist ein monumentales Werk, das doch tatsächlich beweisen will, dass die Dinge immer besser werden, die Menschheit dazulernt und die allgemeine Resistenz gegen Gewalt zunimmt. Der Schriftsteller Dietmar Dath, der jetzt auch nach dem Lorbeer der Groß-Theorie strebt, hat sich zusammen mit Barbara Kirchner ebenfalls dem Fortschritt verschrieben, und zwar dem sozialen. Jedem Gedanken und jeder Handlung sei die Möglichkeit der Selbstverbesserung impliziert. »Der Implex« (Suhrkamp) verwaltet das Erbe der Linken – Wohlstand, Bildung, Schönheit und Suhrkamp-Kultur für alle! 
Das von Medien und Werbung so freundlich-fröhlich gezeichnete Bild der Patchwork-Familie nimmt Melanie Mühl aufs Korn: oft nichts als Fassade, hinter der private Tragödien lauern. Die Autorin plädiert in der »Patchwork-Lüge« (Hanser) gegen das Flickwerk – und für Verlässlichkeit und Festlegung. »Politisch unkorrekte Ansichten« (Wagenbach) über Frauen verspricht ein posthum veröffentlichtes Buch der Essayistin Katharina Rutschky: Es geht um Quote und Körperbilder, Partnerschaftsproblematik und Feminismusverdruss.
Im Zusammenhang mit Thilo Sarrazin ist viel Halbwahres oder Ganzfalsches über die Erblichkeit von Intelligenz gesagt worden; insbesondere von seinen Gegnern. Der renommierte Wissenschaftsvermittler Dieter E. Zimmer bemüht sich in »Ist Intelligenz erblich?« (Rowohlt) um Klärung des Sachverhalts und den Stand der Forschung. Noch einen Schritt weiter, und Cornelia Stolze ist der Alzheimer-Verschwörung auf der Spur. Die Krankheit, durch Arno Geigers berührende Situationsanalyse »Der alte König in seinem Exil« (Hanser) verstärkt im Gespräch, sei gar keine, meint Stolze in »Vergiss Alzheimer« (KiWi). Sie sieht sie vielmehr als gezielt geschaffenes Konstrukt aus ganz anders erklärbaren Symptomen, mit dem Ängste geschürt, Forschungsmittel mobilisiert, Karrieren im Gesundheitswesen befördert und Millionen verdient werden. 
Ein »Zwischenruf« kommt von Mathias Döpfner. »Die Freiheitsfalle« (Propyläen) beschäftigt sich mit den Versuchungen der Unfreiheit und plädiert gegen ideologische Ver­krus­tungen, Regulierungswahn und soziale Rundumversorgung. Dass wir uns häufig vor den falschen Dingen fürchten, erfährt man in Walter Krämers Kompendium »Die Angst der Woche« (Piper). Eine Angst, die viele umtreibt: das mögliche Scheitern der Integration. Denn die Menschheit erlebt aktuell die größte Völkerwanderung ihrer Geschichte. Wie aus Zuwanderern eine neue Mittelschicht entstehen kann, hat Doug Sanders untersucht (»Arrival City«, Blessing). Auch dies ein Einspruch gegen gewohnte Untergangsszenarien.

Aktuelle Debatten
➤ Dietmar Dath, Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt. Geschichte und Idee. Suhrkamp, Oktober, 900 S., 29,90 Euro
➤ Mathias Döpfner: Die Freiheitsfalle. Ein Zwischenruf. Propyläen, Oktober, 208 S., 18 Euro
➤ Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. S. Fischer, Oktober, 1312 S., 26 Euro
➤ Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge. Hanser, August, 176 S., 16,90 Euro
➤ Walter Krämer: Die Angst der Woche. Warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten. Piper, August, 320 S., 19,95 Euro
➤ Katharina Rutschky: Im Gegenteil. Politisch unkorrekte Ansichten über Frauen. Wagenbach, September, 144 S., 10,90 Euro
➤ Doug Saunders: Arrival City. Blessing, September, 400 S., 22,90 Euro
➤ Cornelia Stolze: Vergiss Alzheimer. Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist. KiWi, September, 224 S., 18,99 Euro
➤ Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung. Rowohlt, Januar 2012, 160 S.,
16,95 Eur (Auswahl)

 

Bluthunde und Nachkriegskinder

Viel wurde geschrieben über die Verbrechen des Nationalsozialismus und Stalinismus. Eine überzeugende synthetische Darstellung der system­übergreifenden Vernichtungszusammenhänge hat aber noch gefehlt. Der Yale-Professor Timothy Snider beschreibt in »Bloodlands« (C.H. Beck), wie die Gebiete zwischen Deutschland und Russland zu Killing Fields wurden, gleichermaßen heimgesucht von Terror, Holocaust, Hungerkrieg und den mehrfach über sie hinwegziehenden Millionenfronten von Wehrmacht und Roter Armee: die größte Tragödie der modernen Geschichte, die von der westlichen Geschichtsschreibung bisher nur unvollständig erfasst worden ist.
Den Bloodlands des 19. Jahrhunderts widmet sich Orlando Figes in »Krimkrieg« (Berlin Verlag). Dort und damals lieferten sich Russland, das Osmanische Reich und westliche Mächte unerbittliche Kämpfe, ein hierzulande wenig bekanntes Vorspiel der Weltkriege. Die Biografie eines Bluthunds hat Robert Gerwardt geschrieben: über »Reinhardt Heydrich« (Siedler), Muster-Karrierist des Dritten Reichs, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Organisator der »Endlösung«. Ein weiteres Großwerk über den Untergang des Hitler-Reichs legt Ian Kershaw vor: »Das Ende« (DVA). Die Gründe für die militärische Niederlage sind klar, aber warum leisteten die Deutschen so lange sinnlosen Widerstand, warum funktionierten Verwaltung und öffentliche Ordnung im Nationalsozialismus buchstäblich bis zum letzten Tag?
Die kompromisslose Aufopferung zeigt sich auch in der Selbstmordwelle, die im Frühjahr 1945 durchs Land ging, und die in der  Selbstauslöschung der Führungsgestalten ihr Muster fand. Die erste Gesamtdarstellung zu diesem Thema hat Chris­tian Göschel mit »Selbstmord im Dritten Reich« (Suhrkamp) vorgelegt. »Zwischen Krieg und Frieden« (Berlin Verlag) von Frederick Taylor erzählt von den Umbruchjahren 1944–1946, wechselweise aus der Perspektive der Besatzer und der Besetzten: Entnazifizierung als nie dagewesene politische Herausforderung für die Siegermächte. Mit den familiären Belas­tungen der in den Nachkriegsjahren geborenen »Nachkriegskinder« (Klett-Cotta) beschäftigt sich Sabine Bode, mit einer speziellen historischen Spätlast dagegen Hal Vaughan: In »Der schwarze Engel« (Hoffmann und Campe) schildert er Coco Chanel, Verkörperung des guten Geschmacks und einflussreichste Modeschöpferin ihrer Zeit, als »Nazi-Agentin«, die jüdische Geschäftspartner enteignen ließ und mit der Besatzungsmacht kooperierte.
Die Wurzeln des deutschen Antisemitismus legt Götz Aly in »Warum die Deutschen, warum die Juden?« (S. Fischer) frei: Rassenhass und Ressentiments hatten ihre Gründe, viele Deutsche litten an Freiheitsangst und Fortschrittsscheu – die deutschen Juden wussten dagegen vielfach die Chancen der Moderne zu nutzen und waren der Mehrheitsbevölkerung mit ihrer Urbanität und ihrem Aufstiegswillen schlicht unheimlich. Alfred Döblin war Deutscher und Jude, beschrieb die Bloodlands des Dreißigjährigen Kriegs in »Wallenstein«, feierte die Urbanität in »Berlin Alexanderplatz« und wurde im Exil von Engeln heimgesucht. Fast ein Skandal, dass es bisher keine angemessene biografische Darstellung dieses großen Autors und seines wechselvollen Lebens gab. Mehr als fünf Jahrzehnte nach Döblins Tod hat endlich Wilfried F. Schoeller diese Lücke der deutschen Literatur­geschichte mit »Döblin« (Hanser) geschlossen.

Geschichte
➤ Götz Aly: Warum die Deutschen, warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800 bis 1933. S. Fischer, August, 336 S., 22,95 Euro
➤ Sabine Bode: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter. Klett-Cotta, August, 290 S., 19,95 Euro
➤ Orlando Figes: Krimkrieg – Der letzte Kreuzzug. Berlin Verlag, Oktober, 720 S., 32 Euro
➤ Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Siedler, September, 500 S., 29,99 Euro
➤ Christian Göschel: Selbstmord im Dritten Reich. Suhrkamp, November, 280 S., 21,90 Euro
➤ Ian Kershaw: Das Ende. November, DVA, 700 S., 29,99 Euro
➤ Wilfried F. Schoeller: Alfred Döblin. Eine Bio­graphie. Hanser, September, 609 S., 34,90 Euro
➤ Timothy Snyder: Bloodlands. C. H. Beck, Juli,
528 S., 29,95 Euro
➤ Frederick Taylor: Zwischen Krieg und Frieden. Die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands 1944–1946. Berlin Verlag, September, 560 S., 28 Euro
➤ Hal Vaughan: Coco Chanel – Der schwarze Engel. Hoffmann und Campe, September, 384 S., 22 Euro (Auswahl)

Text Wolfgang Schneider