Nachruf auf Heidi Oetinger

»Mit Umsicht, Zähigkeit und bergsteigerischem Wagemut«

6. Oktober 2009
Redaktion Börsenblatt
Gestern ist Verlegerin Heidi Oetinger in Hamburg-Duvenstedt gestorben. Der Nestor der Jugendbuchforschung, Prof. em. Klaus Doderer, würdigt in einem Nachruf die Grande Dame des deutschen Kinderbuchs:

Im 101. Lebensjahr ist das beruflich äußerst erfolgreiche und persönlich ereignisreiche Leben einer aufrechten, tatkräftigen und stets wachen Frau zuende gegangen. Ihr Tod lässt jeden, der sie gekannt hat, respektvoll und nachdenklich trauernd innehalten. Bis in ihre letzten Jahre nahm sie interessiert und aktiv am Verlagsgeschehen teil, war noch mit 90 und mehr Jahren dienstags vormittags dabei, wenn in Hamburg-Duvenstedt Lektorats- und Geschäftsbesprechungen stattfanden, verfolgte aufmerksam die Fach- und die Tagespresse, telefonierte anteilnehmend mit ihren Freunden und war genau über das Wohl und Wehe ihrer Enkel und Großenkel im Bilde. Ja, sie ließ es sich nicht nehmen, noch im hohen Alter quer durch Deutschland bis nach Vorarlberg in ihre Schrunser Sommerwohnung zu reisen.

Die Hanseatin, die sie die meiste Zeit ihres langen Lebens war, soll schon als junge Frau unternehmerische Anlagen besessen haben, soll sie, bevor sie Verlegerin wurde, mit bergsteigerischem Wagemut und sportlichem Ehrgeiz in den Alpen und an der Küste umgesetzt haben. Ihr Vater war Österreicher, ihre Mutter kam aus dem Mecklenburgischen. Heidi Oetinger ist noch in der "Kaiserzeit" geboren, war sechs Jahre alt, als der Erste Weltkrieg begann, sieben, als ihr Vater in Russland fiel und gerade zehn, als 1918 die Waffen schwiegen. In der Weimarer Republik, in der Zeit der Inflation, der Weltwirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit ging sie in die Lehre, wurde Sekretärin bei einem Anwalt, der sich auf Schifffahrtsrecht verstand.

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs heiratete sie. Ihr Mann, ein Holzkaufmann, fiel 1942. Zurück blieb sie mit der kleinen Tochter, schlug sich recht und schlecht durch Kriegs- und Trümmerzeiten durch und nahm 1948 eine Stelle in einem Verlagsunternehmen ohne klares Profil an. Der Verleger hatte sich noch nicht so recht entschieden, ob er wirtschaftspolitische Fach-, sozialpolitische Sach- oder gar Kinderliteratur unter seine Fittiche nehmen sollte.

Heidi Oetinger fasste, als die Kriegerwitwe Heidi von Hacht , als Mutter der kleinen Tochter Silke, als Sekretärin vor der Schreibmaschine sitzend, im Nachkriegsverlagswesen Fuß. Der ehemalige Buchhändler und Antiquar , dann Verleger Friedrich Oetinger war es, der sie einstellte. „Ich hatte damals als Sekretärin im Verlag angefangen zu arbeiten. Später haben wir dann unsere Neigung zueinander entdeckt. Wir haben 1952 geheiratet", so kommentiert sie später knapp den Werdegang, dem ja noch einige Etappen folgten. Erinnert sei nur an das spätere Ausscheiden und den Tod Friedrich Oetingers, an die Umwandlung der Einzelfirma in eine GmbH mit Heidi Oetinger, Silke und Uwe Weitendorf und Thomas Huggle als Gesellschafter, an die schmerzhaften Veränderungen nach dem frühen plötzlichen Tod des Schwiegersohns, an die Erweiterung der Verlagsgruppe, an die diversen großen Erfolge und die vielen neuen Autorinnen und Autoren, Illustratorinnen und Illustratoren, zu denen sie in den meisten Fällen einen weit über das Geschäftliche hinausgehenden freundschaftlichen Kontakt pflegte.

Damals, am Anfang der Tätigkeit im Buchgeschäft in den Jahren nach der Währungsreform, scheint Heidi Oetinger sehr schnell die Etage im Verlag gewechselt und mit dem Elan der Trümmerfrauen auf ihre Weise zugegriffen zu haben. Friedrich Oetinger war es zwar, der 1949 auf einer Schwedenreise die damalige Stockholmer Verlagsangestellte Astrid Lindgren fragte, ob er ihr Kinderbuch „Pippi Langstrumpf" in Deutschland in seinem jungen Verlag veröffentlichen dürfe. Da hatten sich offensichtlich zwei Anfänger getroffen und sich als Autorin und Verleger glücklicherweise vertraut, denn Astrid Lindgren sagte zu. Aber in Hamburg war es dann schon Heidi, die mit Umsicht und Zähigkeit für die nötige Verbreitung und Werbung sorgte und sich bemühte, andere Autorinnen und Autoren mit ähnlicher frischer Stimme zu gewinnen.

Der Kinderbuchverlag mauserte sich schnell und folgte dem 1960 von der Verlegerin selbst klar formulierten Programm: „Die Bücher, die junge Menschen in die Hand bekommen, sollen ihnen zeigen, wie schön die Welt sein kann. Sie dürfen jedoch nicht vertuschen, dass es Schwierigkeiten, Gefahren, Enttäuschungen, Angst, Verlust, Trauer gibt. Aber die Kinder sollen mit solchen Problemen nicht allein gelassen werden. Sie sollen lernen, dass man damit leben muss und wie man damit fertig werden kann."

Längst waren in diesen Aufstiegsjahren der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland schon James Krüss, An Rutgers, Hans Peterson oder Margarete und Rolf Rettich dem Hause Friedrich Oetinger verbunden. Wenn sie wie auch die vielen anderen, die bis heute folgten, wie Paul Maar und Christine Nöstlinger, Kirsten Boie oder Cornelia Funke, und wie die Illustratoren Leo Lionni, Reinhard Michl, Ilon Wikland und Jutta Bauer, wenn sie allesamt ein nicht ganz alltägliches Verhältnis zum Verlag hatten oder haben, dann dürfte dies viel zu tun haben mit der lange Zeit und so lebendig agierenden guten Seele des Hauses. Bis in ihr hohes Alter hinein hat sie weise mitberaten, hat Jubiläen zu feiern verstanden, hat eifrig mitgemacht, wenn es beispielsweise um die Darstellung des Hauses in den jährlichen Almanachen ging, hat sich im Arbeitskreis für Jugendliteratur, in der Erich Kästner Gesellschaft, im Verleger-Ausschuss des Börsenvereins und in anderen Vereinigungen engagiert, dort sachlich und konstruktiv zu Wort gemeldet und auch mit großzügiger Hand dort geholfen, wo sie den guten Zweck einsah.

Die Geschichte eines der bedeutendsten deutschen Kinder- und Jugendbuchverlage und die Biografie Heidi Oetingers, einer der erfolgreichsten deutschen Jugendbuch-Verlegerinnen, fallen zusammen. Der Start war vor mehr als einem halben Jahrhundert. Er ist zugleich der Beginn einer lebenslangen Freundschaft zweier Frauen. Noch spät im Leben erinnerte sich Heidi Oetinger an die Anfänge, als sie der durch Hamburg durchreisenden Astrid Lindgren das Honorar ans Taxi brachte. Und Astrid Lindgren erinnert sich ebenso an diesen denkwürdigen Moment: „Heidi, liebste Schwester! Ich weiß noch, wie ich Dich zum ersten Mal gesehen habe. ... Dort auf dem Bürgersteig stand ein zierliches, schwarzhaariges und dunkeläugiges, sehr reizendes Mädchen, die Hände voller D-Mark. Dieses Mädchen warst Du, Heidi."

Man hat sie mehrfach öffentlich geehrt. Besonders stolz war sie darauf, dass sie der schwedische König Carl XVI. Gustav zum „Ritter Erster Klasse des Königlichen Schwedischen Nordsternordens" erhoben hat und dass ihr die Hamburger für ihre Verdienste die „Biermann-Rathjen-Medaille" verliehen haben. Erst im Mai dieses Jahres wurde ihr im Hamburger Rathaus das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse überreicht.

Ihre runden Geburtstage verstand sie zu feiern, ergriff bei gedeckter Tafel das Wort und brachte die Menschen zusammen. Sie konnte auch wunderbar ins Erzählen kommen, wenn ihr der Abend und der Wein die Zunge gelockert hatte. Ihren Freunden hielt sie die Treue, auch über deren Tod hinaus. Wenn sie nach München kam, versäumte sie nicht, Erich Kästners und Luiselotte Enderles Grab zu besuchen und ein paar Blumen dort zu lassen.

James Krüss hatte sich schon, als Heidi Oetinger 75 wurde, gefragt:

Zwar, ich frage mich vergebens,

wenn der Wind die Blätter treibt,

wo in Deinem Herbst des Lebens

Eigentlich der Herbsthauch bleibt.

 

Nun ist ihr langer Lebensherbst zu Ende gegangen. Sie konnte sich, im Bewusstsein, ein umfangreich gewordenes Werk bis zuletzt begleitet zu haben, aber nun auch in guten Händen zu wissen, in letzter Zeit mehr und mehr zurücklehnen. Ich bin jedoch sicher, dass ab jetzt an manchem Dienstag Vormittag bei den Besprechungen eine Stimme fehlen und vielleicht auch ein guter Rat unausgesprochen bleiben wird.