Buchtipp

Andere Lebensweisen anerkennen

14. April 2009
von Börsenblatt
Judith Butler versteht ihr Handwerk: Anfang der 90er Jahre hat die Theoretikerin mit ihrem Buch „Gender trouble“ die hiesige Geschlechterforschung aufgemischt. Hinreichend Sprengkraft besitzt auch ihre neueste Aufsatzsammlung „Die Macht der Geschlechternormen“, die vor zwei Wochen erschienen ist.

Es geht nicht nur Eltern so: Bei der teilnehmenden Beobachtung auf Spielplätzen schießt einem schon mal der Gedanke durch den Kopf, Frauen und Männer würden unüberwindliche angeborene Unterschiede trennen. Allen, die solcher Alltagsevidenz zu Recht misstrauen, sei die Lektüre von Judith Butlers „Die Macht der Geschlechternormen“ ans Herz gelegt – gleichgültig, ob es in einer weiblichen oder männlichen Brust schlägt.
     Die Professorin für Rhetorik an der University of California in Berkeley ist hierzulande eine der prominentesten feministischen Theoretikerinnen der Gegenwart, seit ihr Buch „Gender trouble“ Anfang der 90er Jahre auf Deutsch erschien. Es sorgte in der Geschlechterforschung vor allem deshalb für Empörung, weil darin der Geschlechtskörper (sex) als sozial-diskursives Konstrukt entlarvt wurde. Um ein übliches Missverständnis zu vermeiden: Butler behauptete keineswegs, dass alles am Körper kulturell ist. Der unbestimmbare vorgesellschaftliche Anteil der Zweigeschlechtlichkeit interessiert sie aber nicht, sondern die sozialen Normen, die dafür sorgen, dass unsere Körper die passende weibliche oder männliche Geschlechtsidentität inszenieren. Eigentlich hat Butler damit nur das berühmte Diktum Simone de Beauvoirs radikalisiert: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“
     Auch in ihrem neusten Buch „Die Macht der Geschlechternormen“ argumentiert Butler gegen die Vorstellung von der Biologie als Zwang – und sucht damit nicht zuletzt die Einschätzung Sigmund Freuds zu widerlegen, der einst apodiktisch befand: „Die Anatomie ist das Schicksal.“ Die hier nun versammelten Essays, entstanden zwischen 2000 und 2004, hinterfragen erneut zentrale feministische Kategorien und diskutieren Themen von der Psychoanalyse über Reproduktionstechnologie bis zur Homoehe. Auffallend oft bezieht die Autorin dabei politisch Stellung, springt häufig hin und her zwischen hochabstrakt Philosophischem und erfahrungsgesättigt Empirischem. Sie ergreift beispielsweise klar Partei für die Intersexuellen-Bewegung, die sich gegen die Praxis wendet, Säuglinge und Kleinkinder mit geschlechtlich uneindeutiger oder hermaphroditischer Anatomie zwangsweise chirurgischen Eingriffen zu unterziehen. Oder sie kritisiert die Pathologisierung, der sich Transsexuelle unterziehen müssen, wenn sie von ihrer Krankenkasse Zuschüsse für Operationen erhalten wollen. Und ganz allgemein macht sie darauf aufmerksam, dass innerhalb der gegebenen sozialen Normen Menschen mit einer uneindeutigen Geschlechtsidentität „drangsaliert“ werden. Diesen anderen Lebensweisen zur notwendigen Anerkennung zu verhelfen ist das vordringliche Anliegen der Autorin. Im Mittelpunkt des Buchs steht daher die Frage, wie jene restriktiven normativen Konzeptionen und Handlungseinschränkungen aufzulösen wären, die für manche von uns so unerträglich sind. Ein Vorhaben, das sich im Originaltitel „Undoing gender“ deutlicher niederschlägt als in der deutschen Übersetzung bei Suhrkamp. So weit, so einleuchtend. Doch die Mehrheit der Leserschaft könnte sich nun sagen: Was ficht es mich in meinem eindeutigen Frau- oder Mannsein eigentlich an, wenn eine Minderheit mit der Zweigeschlechtlichkeit nicht zurechtkommt? Mit Butler ist zu begreifen, dass abweichende Existenzweisen die Norm als Setzung enttarnen – und dass letztlich niemand ein bestimmtes Geschlecht oder ein sexuelles Begehren „hat“, also es im Sinne einer Eigenschaft oder eines Merkmals besitzt. Warum? Weil unser Geschlecht in einer Sozialität wurzele, die unserem individuellen Dasein vorausgeht und es überdauern. Und wie soll man nun diese Erkenntnis in Einklang bringen mit Spielplatzbeobachtungen? Übung macht die Meisterin.

Andrea Rinnert

Judith Butler: „Die Macht der Geschlechternormen“. Aus dem Englischen von Karin Wördemann, Martin Stempfhuber u.a.. Suhrkamp, 2009, 414 S., 24,80 Euro