Buchtipp

Ausweitung der Sensibilitätszone

8. April 2009
von Börsenblatt
Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger hat ihre Autobiografie fortgesetzt: „unterwegs verloren“ erzählt von ihrem Leben in den USA, in die sie 1947 emigrierte. Wenn ein Anfang brillant war, lastet auf der Fortsetzung immer ein erheblicher Erwartungsdruck.

Daher erstaunt es nicht, wenn sich bei der Lektüre des zweiten Teils der Autobiografie Ruth Klügers manchmal eine leise Enttäuschung einstellt. Die aber im nächsten Augenblick bereits wieder unangebracht erscheint. Es lohnt sich, den möglichen Ursachen dieser schwankenden Einschätzung nachzugehen.
     1931 in Österreich geboren, wurde die Jüdin Ruth Klüger mit elf Jahren von den Nazis deportiert, überstand die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt – und floh, zusammen mit ihrer Mutter, bei dem anschließenden Todesmarsch. Von diesen Extrem-Erlebnissen hat die Autorin in „weiter leben“ in einer ebenso präzisen wie poetischen Sprache berichtet und hat dabei die gegenwärtigen Ausprägungen des Antisemitismus reflektiert. Ein Buch, das mit dem Bleistift in der Hand gelesen werden musste, weil das Unterstreichen von besonders eindrucksvollen Passagen unumgänglich schien.
     Dass man bei „unterwegs verloren“ seltener zustimmen möchte, liegt keineswegs daran, dass der Band in sprachlicher Hinsicht hinter dem ersten Teil zurückbliebe. Liegt es möglicherweise am geringeren historischen Gewicht der geschilderten Ereignisse? Einen wichtigen Teil macht ihr akademischer Werdegang aus: Ruth Klüger erzählt in „unterwegs verloren“, wie es ihr mit Eifer und Zähigkeit gelang, nach ihrer Scheidung als alleinerziehende Mutter ein Germanistikstudium inklusive Promotion durchzuziehen – und anschließend Lehrstellen an diversen Eliteuniversitäten zu ergattern. Heute ist sie, wie allgemein bekannt, eine international hochangesehene Literaturwissenschaftlerin. Alles in allem eine gelungene Karriere?
     Gegen ein solches Fazit verwahrt sich die Autorin, verdeckt es doch die Hindernisse und Unwegsamkeiten, die Schmähungen, Verletzungen und Kränkungen, die sie erfuhr. Sei es der anonyme Brief, in dem ein Student ihr vorwirft, sie stelle in sommerlicher Kleidung ihre eintätowierte KZ-Nummer (inzwischen hat sie sich diese weglasern lassen) zur Schau; sei es, dass sie als Nestbeschmutzerin gilt, weil sie eine komparatistische Vorlesung über Holocaust-Literatur ankündigt; sei es, dass die männlichen Professoren sie als Alibi-Quotenfrau abqualifizieren oder ein Bankangestellter in Göttingen ihr Konto plündert: Solche Erlebnisse ziehen sich leitmotivisch durch den Band, und die Autorin bezieht diese meistens entweder auf ihr Frausein oder ihr Jüdischsein – zwei Gruppenzugehörigkeiten, die sie als untrennbar verflochten erlebt. „Das heißt, jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch“, stellt sie bilanzierend fest, als sie auch gegen rassistische Ausgrenzung auf dem Campus ihre Stimme erhebt. Vor dem Hintergrund ihrer Biografie ein Satz von schier unermesslichem Gewicht. Und weil sie genauso schonungslos mit sich selbst wie mit anderen umspringt, ist ihr klar, dass die beim Erinnern wiedererwachte Empörung sie daran hindert, „zwischen wesentlichen Mißständen und lediglich ichbezogenen Beleidigungen zu unterscheiden“. Genau hier liegt der Grund dafür, warum man beim Lesen von „unterwegs verloren“ trotz aller Bewunderung für Klügers Scharfblick und Vehemenz innerlich des Öfteren auf Distanz geht.
     Doch letztlich muss man den Mut anerkennen, mit dem Ruth Klüger sich in diesem Buch durch ihre Offenheit angreifbar macht. Der Band ist augenscheinlich, das zeigen kleine Wiederholungen und Überschneidungen zwischen den Kapiteln, über mehrere Jahre entstanden, und am Ende gibt uns die Autorin einen Eindruck von ihrer aktuellen Verfassung, der von einer gesellschaftlichen Analyse nicht zu trennen ist: „Es ist uns schon schlechter gegangen.“ Dieser Satz, ein geflügeltes Wort zwischen ihr und ihrer ebenfalls vom Zweiten Weltkrieg geprägten Freundin Maria, habe zwei Seiten: einerseits meine er „her mit einem Glas Sekt“, weil alles überstanden sei, andererseits diene er als eine unbewusste Ermahnung: „daß Verdrängen nicht das Gleiche ist wie Vergessen und schon gar nicht wie Überwinden“.
Andrea Rinnert


Ruth Klüger: „unterwegs verloren“. Zsolnay, 2008, 238 S., 19,90 Euro