Buchtipp

Die im Dunkeln sieht man schlecht

9. Juni 2008
von Börsenblatt
Warum in die Ferne schweifen, wenn die Beispiele so nahe liegen? Das mögen sich die Herausgeber des „Jahrbuchs Menschenrechte 2008“ gedacht haben, als sie den Schwerpunkt auf die zeitgenössischen Formen von Sklaverei legten – die es auch in Europa gibt.
Was formal abgeschafft wurde, ist noch lange nicht aus der Welt. Auch nicht aus der globalisierten. Und die Kluft zwischen de jure und de facto, zwischen Anspruch und Realität, existiert bekanntlich auch in Rechtsstaaten. Von daher verblüfft es eigentlich kaum, dass sich trotz diverser abolitionistischer Abkommen nach wie vor gravierende Menschenrechtsverletzungen ereignen, die mit dem Begriff „Sklaverei“ treffend beschrieben werden können. Skandalös ist es freilich trotzdem, dass weltweit schätzungsweise 12 Millionen Menschen wie Eigentum behandelt, zur Arbeit gezwungen und so ihrer Freiheit beraubt und in ihrer Würde negiert werden. So weit, so abstrakt. Dem aktuellen „Jahrbuch Menschenrechte“ kommt das Verdienst zu, die konkreten Lebensverhältnisse hinter dieser von einer Dunkelziffer verzerrten Zahl hell auszuleuchten. Aha-Erlebnisse oder eher Oh-nein-Effekte inklusive. Die pointierten, anschaulichen Beiträge verbindet ein Anliegen, das Aidan McQuade, Direktor der Londoner Vereinigung Anti-Slavery International, hier folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Sklaverei muß direkt benannt werden, wenn man sie beseitigen will.“ Doch für wen genau ist heute die Abschaffung der Sklaverei ein uneingelöstes Versprechen? In welchen komplexen Formen manifestiert sie sich heute? Beispiel Indien: In der größten Demokratie der Welt ist die Schuldknechtschaft seit 1933 zwar illegal. Doch mangels angemessener Durchsetzung dieses Verbots treibt bereits ein kleiner Kredit, aufgenommen für Medikamente oder Nahrung bei einem privaten Geldverleiher, aufgrund von Wucherzinsen immer noch Generationen in eine Art Leibeigenschaft. Beispiel China: Laut Selbstverständnis der Kommunistischen Partei ist die Zwangsarbeit abgeschafft, doch es gibt sie nicht nur im Strafvollzug – auch die boomende Privatisierung hat die Arbeitsbedingungen enorm verschlechtert. Beispiel Afrika, wo Kinder durch militärische Organisationen als Soldaten missbraucht werden. Bei der Lektüre des Bands drängt sich jedoch die Erkenntnis in den Vordergrund, dass die Situation auch innerhalb Europas beklagenswert ist. Das Thema Zwangsprostitution zieht hierzulande momentan weniger Aufmerksamkeit auf sich als 2006 vor der Fußball-WM, als man eine kurzzeitige drastische Zunahme dieses Delikts befürchtete. Doch die Sklavenhalter von heute verdienen weiterhin am „Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“. Und die Opfer von Zwangsprostitution, meist Migrantinnen ohne legalen Aufenthaltsstatus, werden aus Deutschland abgeschoben, sobald sie gegen die Täter als Zeuginnen ausgesagt haben. Na, was denn sonst, die Rückführung in die Heimat dürfte ja wohl im Interesse dieser Frauen sein, oder? Wer so denkt, sollte sich den Aufsatz von Andrea Sölkner und Bärbel Heide Uhl vornehmen: Ausgeblendet werde, so die Autorinnen, dass am Ausgangspunkt von Menschenhandel oft ein Migrationswunsch wegen Perspektivlosigkeit gestanden habe. Außerdem werde Menschenhandel politisch instrumentalisiert: Die Regierungen der Zielländer – darunter auch unsere – leiten daraus eine restriktive Einwanderungspolitik ab. Ähnlich funktioniert es bei der Zwangsverheiratung, wo (minderjährige) junge Frauen wie Besitz zwischen Großfamilien ausgetauscht werden: Auch dieser modernen Form der Sklaverei versucht man staatlicherseits beizukommen, indem „Risikogruppen“ definiert und ihnen die Einreise erschwert beziehungsweise verweigert wird. Nun mag es Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft vergleichsweise leichtfallen, Zwangsprostitution und Zwangsverheiratung als menschenverachtende Verbrechen zu brandmarken: Denn im ersteren Fall spielt sich alles in einem tendenziell kriminellen Milieu und im letzteren Fall unter Migranten ab, die angeblich ohnehin in einer Parallelgesellschaft leben. Schluss mit einer solchen ideologischen Bequemlichkeit!, scheint das „Jahrbuch Menschenrechte 2008“ jenen, die es aufmerksam lesen, zuzurufen, indem es das Beispiel „Domestic Work“ aufgreift. Die Soziologin Christiane Howe verwahrt sich explizit gegen „die mitunter reißerischen Darstellungen oder auch Horrorgeschichten“ – und vermittelt gleichwohl den Eindruck, dass Arbeitsmigrantinnen aus Asien, Lateinamerika, Mittel- und Osteuropa aufgrund ihrer Tätigkeit im Reproduktionsbereich, das heißt als Hausangestellte, Kinderbetreuerinnen, Pflege- und Reinigungskräfte, zwar nicht immer spektakulär schlechten, aber strukturell problematischen Situationen ausgesetzt sind. Insbesondere Frauen ohne legalen Aufenthaltsstatus leiden, so wird deutlich, unter nachteiligen Bedingungen: Sie können um ihren Lohn geprellt oder schändlich schlecht bezahlt werden. Nicht von Kriminellen, sondern durchaus von ganz normalen Leuten, die überlegen, sich „eine Polin zu nehmen“, weil sie nicht wissen, wie sie sonst die Pflege der Eltern finanziell bewerkstelligen sollen. Kein Zweifel, „die Polin“ ist in Deutschland zum Inbegriff der ebenso tüchtigen wie billigen Dienstleisterin im Privathaushalt geworden – an einem vergleichsweise gut vor Kontrolle geschützten Ort, der so zum Hort für ungeschützte Arbeitsverhältnisse wird. Mit potenziell ausbeuterischer Dimension. Offenkundig hat die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen kaum dazu geführt, die Hausarbeit zwischen den Geschlechtern umzuverteilen. Wie die Soziologin Helma Lutz unlängst konstatiert hat, ist die Familienarbeit nach wie vor „weiblich vergeschlechtlicht“. Sie wird jedoch inzwischen vielfach als Dienstleistung delegiert – immer häufiger an illegal beschäftigte Migrantinnen. Deren prekärer Status resultiert freilich auch daraus, dass es an Initiativen seitens der Politik fehlt, eine unbestreitbar vorhandene Nachfrage durch eine entsprechende Öffnung des Arbeitsmarkts zu regeln. Die im Dunkeln sieht man nicht? Man sieht sie allenfalls schlecht, aber das könnte auch an der Technik des Beide-Augen-Zukneifens liegen. Nicht zuletzt plädiert der vorliegende Band für ein Ende dieser Vogel-Strauß-Haltung – dann würden auch die Profite der am Rande der grauen Ökonomien agierenden modernen Sklavenhalter dahinschwinden. Andrea Rinnert „Jahrbuch Menschenrechte 2008. Themenschwerpunkt: Sklaverei heute“. Hrsg. vom Deutschen Institut für Menschenrechte u. a., Suhrkamp, 2007, 341 S., 12 Euro Weitere Buchtipps finden Sie hier!