Buchproduktion in Corona-Zeiten

"Wir sollten die Zeit des Verzichts nutzen, die Spreu vom Weizen zu trennen"

23. April 2020
Redaktion Börsenblatt
Der Zürcher Verleger Peter Haag (Kein & Aber) macht sich angesichts der Corona-Krise Gedanken über die Zukunft des Buchmarkts. Ihm schwebt ein Ausstieg aus dem "Hamsterrad der maßlosen Buchproduktion" vor. Die Kunden seien seit langem damit überfordert, meint Haag.

Den Text hat Peter Haag als Editorial der Herbst-Vorschauen seines Kein & Aber-Verlags geschrieben, die in circa zehn Tagen erscheinen. Wir geben ihn hier vorab im Wortlaut wider:

"Liebe Leserinnen, liebe Leser –

Schwierige Situationen wie die Corona-Krise zwingen uns, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Was es sonst im Überfluss gibt, wird plötzlich von einer stets verfügbaren Selbstverständlichkeit zu einem raren Luxusgut. Womit wir bei einem guten Nebeneffekt der Katastrophe sind: der Möglichkeit, eine Zäsur zu setzen. Indem wir uns wieder stärker auf die essenziellen Dinge besinnen und darauf, was sie uns lehren können. Und zu diesen gehören für uns alle Bücher. Den pfiffigen Buchhändlern ist es zu verdanken, dass über ihre Webshops und ad hoc ausgetüftelten unkonventionellen Lieferwegen weiterhin der Nachschub an Büchern gesichert ist.

Mir ist in den vergangenen Wochen ein latenter Gedanke der letzten Jahre wieder und wieder durch in den Sinn gekommen – dass wir die Zeit des Verzichts dazu nutzen sollten, die Spreu vom Weizen zu trennen bzw. uns genau zu überlegen, ob wir zuletzt nicht in ein Hamsterrad der maßlosen Buchproduktion eingetreten sind und jetzt der Punkt gekommen ist, auszusteigen. Rohstoffe und Ressourcen mitunter sinnlos vergeudet zu haben. Mir schwebt daher eine Art Exit aus dem Programm überbordender Titelproduktion vor – wie Sie wissen, erscheinen allein auf dem deutschen Markt täglich über 220 neue Buchtitel, die sich dann einen Weg zum Kunden bahnen müssen. Oftmals vergeblich. Bis Anfang der Achtzigerjahre waren es noch deutlich weniger; danach wurde in einem Maße aufgedreht, dass eigentlich für uns alle daraus eine Zumutung erwachsen ist. Und wenn man genau hinschaut, ohne Grund. Der Kunde ist seit langem überfordert, das für ihn richtige Buch aus der schieren Masse der Neuerscheinungen herauszufiltern; die Buchhändler müssen stets aufs Neue ihre Ladenflächen freiräumen; die Presse hat kaum mehr Platz in ihren Feuilletons als für ein paar Dutzend Neuerscheinungen – und wir Verlage leiden unter einem Verdrängungswettbewerb, der nicht zwingend zum besseren Produkt führt. Warum deshalb hier jetzt nicht die Notbremse ziehen, wo doch plötzlich vieles denk- und vorstellbar geworden ist, was vorher undenkbar war?

Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Ihre Gedanken dazu aus der Isolation zukommen lassen – und natürlich, wenn Sie unser diesmal quantitativ schmaleres Programm qualitativ dennoch schätzen. Einen aktuellen Titel möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang ans Herz legen: Martin Meyers Corona – eine Erzählung, die unter dem Eindruck des Ereignisses entstanden ist und aus der Sicht eines Buchhändlers berichtet, wie er sich in der Quarantäne der relevanten Lektüren seines Lebens besinnt und Trost aus diesen zieht."

Stimmen Sie Peter Haag zu? Haben wir eine "maßlose Überproduktion"? Und wäre jetzt genau die richtige Zeit für eine Korrektur? Wir freuen uns über Ihre Kommentare unter diesem Beitrag!