Den Text hat Peter Haag als Editorial der Herbst-Vorschauen seines Kein & Aber-Verlags geschrieben, die in circa zehn Tagen erscheinen. Wir geben ihn hier vorab im Wortlaut wider:
"Liebe Leserinnen, liebe Leser –
Schwierige Situationen wie die Corona-Krise zwingen uns, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Was es sonst im Überfluss gibt, wird plötzlich von einer stets verfügbaren Selbstverständlichkeit zu einem raren Luxusgut. Womit wir bei einem guten Nebeneffekt der Katastrophe sind: der Möglichkeit, eine Zäsur zu setzen. Indem wir uns wieder stärker auf die essenziellen Dinge besinnen und darauf, was sie uns lehren können. Und zu diesen gehören für uns alle Bücher. Den pfiffigen Buchhändlern ist es zu verdanken, dass über ihre Webshops und ad hoc ausgetüftelten unkonventionellen Lieferwegen weiterhin der Nachschub an Büchern gesichert ist.
Mir ist in den vergangenen Wochen ein latenter Gedanke der letzten Jahre wieder und wieder durch in den Sinn gekommen – dass wir die Zeit des Verzichts dazu nutzen sollten, die Spreu vom Weizen zu trennen bzw. uns genau zu überlegen, ob wir zuletzt nicht in ein Hamsterrad der maßlosen Buchproduktion eingetreten sind und jetzt der Punkt gekommen ist, auszusteigen. Rohstoffe und Ressourcen mitunter sinnlos vergeudet zu haben. Mir schwebt daher eine Art Exit aus dem Programm überbordender Titelproduktion vor – wie Sie wissen, erscheinen allein auf dem deutschen Markt täglich über 220 neue Buchtitel, die sich dann einen Weg zum Kunden bahnen müssen. Oftmals vergeblich. Bis Anfang der Achtzigerjahre waren es noch deutlich weniger; danach wurde in einem Maße aufgedreht, dass eigentlich für uns alle daraus eine Zumutung erwachsen ist. Und wenn man genau hinschaut, ohne Grund. Der Kunde ist seit langem überfordert, das für ihn richtige Buch aus der schieren Masse der Neuerscheinungen herauszufiltern; die Buchhändler müssen stets aufs Neue ihre Ladenflächen freiräumen; die Presse hat kaum mehr Platz in ihren Feuilletons als für ein paar Dutzend Neuerscheinungen – und wir Verlage leiden unter einem Verdrängungswettbewerb, der nicht zwingend zum besseren Produkt führt. Warum deshalb hier jetzt nicht die Notbremse ziehen, wo doch plötzlich vieles denk- und vorstellbar geworden ist, was vorher undenkbar war?
Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Ihre Gedanken dazu aus der Isolation zukommen lassen – und natürlich, wenn Sie unser diesmal quantitativ schmaleres Programm qualitativ dennoch schätzen. Einen aktuellen Titel möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang ans Herz legen: Martin Meyers Corona – eine Erzählung, die unter dem Eindruck des Ereignisses entstanden ist und aus der Sicht eines Buchhändlers berichtet, wie er sich in der Quarantäne der relevanten Lektüren seines Lebens besinnt und Trost aus diesen zieht."
Stimmen Sie Peter Haag zu? Haben wir eine "maßlose Überproduktion"? Und wäre jetzt genau die richtige Zeit für eine Korrektur? Wir freuen uns über Ihre Kommentare unter diesem Beitrag!
vielen Dank für Ihren Artikel. Ich als Sortimenter sehe ich jedes halbe Jahr in den Vorschauen viele unnötige Titel. Wenigsten können und müssen wir ja einiges aussortieren, auch durch die Hilfe und Unsterstützung der Vertreter.
Und das seit Jahren. Mir fehlt der Glaube, dass sich hier was ändert.
zum von Ihnen angestoßenen Thema meinerseits einige erste spontane Gedanken: Ihre Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, dass dies allgemein funktioniert. Wenn gerade Ihr Verlag vorbildlich vorangeht, so brauchen Sie sich wahrscheinlich keine großen Sorgen machen. Der unabhängige Sortimentsbuchhandel schätzt Ihre Qualitäten als „Trüffelschweine“ sehr und Teile Ihrer Produktion funktionieren auch auf großen Flächen. Schlussendlich werden unsere Zahlen hier (kleine Fläche) mit Ihnen auch oder gerade bei einem fokussierten Programm stabil bleiben.
Aber wie schaut das bei den bislang permanent nach neuem Content kreischenden großen Filialisten generell aus – ziehen die mit? Und wie schaut es bei den großen Verlagshäusern aus, die bevorzugt ja exakt diese Kanäle bedienen? Ich bezweifle sehr, dass bei den letztgenannten die Traute besteht, zahlengetriebene Prozesse wirklich neu zu denken. Und damit hinken diese Verlagshäuser eventuell in der Tat aktuellem (auch Ihrem) Nachdenken hinterher. Es kann ja sein, dass Michael Busch plötzlich sein ökologisches Gewissen entdeckt und Ihre Idee werbewirksam richtig gut findet – das könnte für ein paar am Markt beteiligte Verlage dann in der Konsequenz sehr unangenehm werden.
Eine ähnlich flotte gedankliche Wende haben wir übrigens schonmal bei der Gestaltung der Buchpreise erlebt, die unter anderem auch aufgrund des Drucks der Buchhandelsketten jahrzehntelang immer schön unter diversen Schwellen blieben, bevor Hartmut Falter feststellte, dass sich mit € 7,99 für ein Taschenbuch die schönen 1A-Lagen eventuell doch nicht so recht bezahlen lassen können.
Schön wäre es, wenn einige Verlage erkennen, dass viele Buchhandlungen sehr kreativ reagiert haben, ihre Vormerkungen nicht storniert haben, nach wie vor Umsatz gemacht haben – auch wenn der für Euch wegen unseres zwischenzeitlich kompletten BS-Bezugs nicht sichtbar war. Und die Kür in Sachen Einschätzung der Handelsbeziehung wäre es, wenn Verlage erkennen, dass einige Buchhandlungen ihre Nachbestellungen im Gegensatz zu einem Internetriesen eben nicht frühzeitig gestoppt haben, um auf den laufenden Regalmetern statt Büchern plötzlich lieber Toilettenpapier zu verkaufen…
Alleine, lieber Herr Haag, werden die Verlagsvertriebler, die ich mit den letzten Zeilen angesprochen haben wollte, diese gar nicht mehr gelesen haben, weil exakt diese Verlagsvertriebler nur noch maximal 280 Zeichen an einem Stück vertragen – schade drum!
Wie auch immer – bitter wird es für uns hier in Hinsicht Nachschub bei den kleineren Verlagen mit Ihren teils außergewöhnlichen Programmen. Da wird vermutlich einiges auf der Strecke bleiben, was für unser Sortiment hier eigentlich wichtig ist…
Jens Bartsch – Buchhandlung Goltsteinstraße in Köln
Wirklich bitter ist es für die AutorInnen, die mit ihren Büchern (in denen so viel Herzblut und Lebenszeit steckt) in der zweiten Hälfte der Vorschau und damit in der Regel unter dem Radar von Feuilleton und Buchhandel verschwinden. Wem nützen diese Positionen im Diskurs?
Für mich als Buchhändler und Veranstalter wäre es sehr begrüßenswert, Verlage würden sich auf weniger Titel konzentrieren und diese dafür mit allen verfügbaren Mitteln unterstützen. Das fängt bei sorgfältiger Übersetzung und Lektorat an und endet bei einem sinnvollen Marketing. In der Praxis erlebe ich es sehr oft, dass sich AutorInnen bei mir nach der Möglichkeit einer Buchpremiere erkunden, weil der Verlag sich selbst nicht kümmert. So etwas darf nicht passieren! Wenn der Verlag keine Ressourcen hat, sich einem Titel adäquat zu widmen, sollte er ihn nicht machen. Mit solchen Strategien werden vielleicht Vorschauen dicker, aber auch oft vielversprechende Karrieren im Keim erstickt. Denn hat ein Buch aufgrund schlechter Position im Programm in den ersten Monaten nach Erscheinen keine Aufmerksamkeit bekommen, wird er diese auch mit großer Sicherheit nicht mehr bekommen. Das ist ein Verlust für alle Beteiligten.
Besonders aus Perspektive einer veranstaltenden Buchhandlung unterstütze ich daher alle Überlegungen, die zu einer Verschlankung der Programme führen und danke Peter Haag für die Aktualisierung dieser Idee.
Ludwig Lohmann (ocelot, not just another bookstore / blauschwarzberlin)